Kapitel 68

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Nach dem Festschmaus ruhten die zahlreichen Schüsseln und Töpfe auf der Kochinsel. Keiner von uns war in der Lage, sie mit vollgefuttertem Bauch wegzuräumen. Das war nicht schlimm, denn wir genossen es, das Sofa und die Sessel in Anspruch zu nehmen. Mit Weihnachtsbier, Tee, Gløgg und einen Teller voll Gebäck saßen wir zusammen und lauschten der Musik im Hintergrund. Es war eine urgemütliche Stimmung, die durch Erzählungen aus der Vergangenheit aufgeheitert wurde.

Während ich mich in Adrians Umarmung kuschelte und Großvater Geirs Geschichten aus alter Zeit lauschte, betrachtete ich den Tannenbaum. Alle Jahre zuvor hatten Geschenke in groß und klein davor gestanden. Nicht so dieses Jahr. Wir hatten ausgemacht, gänzlich darauf zu verzichten und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich die gemeinsame Zeit. Und das taten wir in vollen Zügen. Zwar hatte ich darüber nachgedacht, Adrian und Nic etwas zu schenken, aber da wir einstimmig zu dem Entschluss gekommen waren, hatte ich den Gedanken wieder verworfen.

Das war gut so, da die letzten Wochen vollgepackt mit der Arbeit im Hotel, dem Backen der Weihnachtskeksen und Vorbereitungen gewesen waren. Gedanken um Geschenke hätten zusätzlichen Stress bedeutet.

Mit meinem Gløgg in der Hand, schloss ich meine Augen und lehnte meinen Kopf gegen Adrians Schulter. Auch wenn ich meine Geliebten schrecklich vermisste, so konnte dieser Moment die Schmerzen der Sehnsucht lindern.

„Leja hat mir nie erzählt, wo sie das Schachspielen gelernt hat. In jedem Spiel hat sie mich haushoch geschlagen", endete Großvater Geir seine Geschichte.

„Sie spielen Schach?", fragte Sven interessiert. Er war der Einzige, der Iduns Vater noch förmlich ansprach und er würde Zeit brauchen, zum Persönlichen überzugehen. Das war seine Art und völlig normal. Niemand störte sich daran.

Geirs Augen begannen zu leuchten. „So viel ich kann", sagte er mit einem Blick zu seiner Tochter. „Leider weigert sich Idun vehement dagegen, die Grundlagen zu lernen."

„Das Spiel ist auch langweilig!", verteidigte sich Idun. „Du weißt doch, dass ich Hummeln im Hintern habe und nicht ewig stillsitzen will, bis du deinen Zug gemacht hast."

Wir begannen zu lachen. Schach war nichts für Leute, die gerne Action im Leben hatten und ständig nach Abenteuer suchten. Strategisch und vor allem vorausschauend denken konnte nicht jeder.

Sven hingegen liebte Schach. Die Grundlagen hatte er sich selbst bereits im Kindesalter beigebracht und seit jeher mit seinem und meinem Vater gespielt. Beide waren relativ gut darin gewesen und er hatte eine Menge von ihnen lernen können.

„Wie wäre es mit einem Spiel, wenn du morgen kommst?", schlug Geir vor.

Begeistert stimmte Sven zu. Idun und die Kinder wollten am Vormittag zum Skifahren aufbrechen und am Abend wieder zurückkommen. In der Zeit würde Sven beim Großvater bleiben. Da sie nun ein gemeinsames Hobby gefunden hatten, würden sie mit Sicherheit den ganzen Tag damit verbringen. Abends würde Sven nach Hause zurückkehren und ich hoffte, dass er sich nicht einsam fühlte. Jetzt, nachdem Merrit entlarvt war, hatte er viel mehr Zeit mit uns verbracht.

Morgen ...

In Gedanken stellte ich mir Sven und Geir vor, wie sie sich gegenübersaßen und lange nachdachten, bevor sie ihren Zug machten. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht und ich richtete mich leicht auf, um meine Tasse auf dem Tisch abzustellen.

„Wann wollt ihr morgen nach Narvik losfahren?", erkundigte sich Nic bei uns.

„Ich würde vorschlagen, wir brechen ebenfalls am Vormittag auf", schlug ich vor. Im Winter war das Tempolimit auf den Straßen heruntergesetzt und manche Stellen waren so langsam wie eine Schnecke. „Dann haben wir genug Zeit, die Hütte aufzuheizen und uns einzurichten."

„Dann sollten wir heute noch zu Ende packen, oder?", fragte Adrian.

„Bevor wir zu Bett gehen. Die Kühltasche machen wir erst morgen früh", stimmte ich zu. Viel gab es nicht mehr, da ich zwischen der Hektik Zeit gefunden hatte, Vorbereitungen zu treffen. Durch die Routine fiel es mir leicht, die wichtigsten Dinge einzupacken. Neben der richtigen Kleidung auch eine Art Notfalltasche, in der Streichhölzer, Kerzen, Batterien, Taschenlampen und sonstiges war, das gebraucht werden könnte. Sicher war sicher.

„Ich gehe einen Moment Luft schnappen", verkündete ich und stand auf. Die Wärme, ausgelöst von Gløgg, Essen und Kamin stieg mir langsam zu Kopf.

„Ich komme mit", kam es sofort von Adrian und er folgte mir zur Garderobe.

Lächelnd warf ich ihm einen Blick zu, als ich meine Jacke anzog und den Reißverschluss einfädelte. „Ist dir auch zu warm?", wollte ich wissen.

„Das nicht, aber ich möchte bei dir sein", erwiderte er im Flüsterton und legte seine Arme von hinten um mich.

Meine Beine verwandelten sich in Wackelpudding, als ich Adrians Lippen an meinem Kopf spürte. Sachte ließ er seinen Atem über meine Haut gleiten und lachte leise, als mein Körper mit Zittern reagierte. Langsam drehte ich mich zu ihm um und stupste seine Brust mit meinem Finger an. „Willst du Nic anschaulich beibringen, wie du Frauen schwach werden lässt?", fragte ich mit einem schiefen Grinsen.

„Das brauche ich nicht", winkte Adrian lachend ab und nickte in Richtung Sessel. Suvinna saß auf Nics Schoß und schmiegte sich ununterbrochen an ihn. „Er hat früh genug gelernt, mit Frauen respektvoll umzugehen."

„Und sie zu verführen", fügte ich trocken hinzu und schob Adrian vor mir durch die Haustür. Draußen schlug uns eine unangenehme Brise ins Gesicht, die beim Einatmen die Lunge fast zum Zerbersten brachte. Da ich unter der Jacke nur ein Kleid trug, fegte sie über meine entblößte Haut hinweg und sorgte für eine herrliche Erfrischung, die meinen Körper mit einer Gänsehaut überzog.

„Ist das kalt", bibberte Adrian und versteckte seine Hände in den Jackentaschen.

„Es sind doch nur -18 Grad", bemerkte ich amüsiert. Mir war klar, dass sich die Temperatur für uns unterschiedlich anfühlte. Vor allem der Wind ließ sie um einige Grade weiter sinken. Ich war abgehärtet und konnte problemlos einige Zeit in meiner Kleidung draußen stehen.

„Nur", schnaubte Adrian, wobei sich ständig kleine Eiswolken vor seinem Mund bildeten. Plötzlich rückte er ein Stück näher an mich. „Wärmst du mich?", fragte er grinsend.

Lachend legte ich meine Arme um ihn und spürte, dass sein Zittern nicht gespielt war. Adrian tat mir leid, denn die Kälte konnte Schaden anrichten, wenn man nicht vorsichtig war. Kräftig rieb ich seinen Rücken und drückte ihn an mich. „Gib es zu, darauf hast du es nur angelegt."

„Nicht nur auf das", erwiderte Adrian schlotternd.

Perplex hob ich meine Augenbrauen. „Worauf denn noch?", wollte ich wissen.

„Auf einen Kuss und Polarlichter. Ich habe gehofft, dass Göttin Freyja mir Glück bringt."

Mit offenem Mund starrte ich Adrian an, schloss ihn jedoch nach wenigen Sekunden, da die Kälte unangenehm im Rachen brannte. „Du bist ganz schön raffiniert", meinte ich kopfschüttelnd und sah hinauf in den Himmel, als ich etwas Kühles an meinem Bein spürte. Durch die Lichter von Andenes war er orange und ich konnte erkennen, wie wolkenverhangen er war. „Leider muss ich dich enttäuschen. Es fängt an zu schneien."

Adrians Gesicht verzog sich zu einem Flunsch. „Oh", sagte er langgezogen und ich kicherte. Seine Jagd nach Polarlichtern war immer wieder aufs Neue amüsant.

Schweigend standen wir da und sahen den Schneeflocken zu, wie der Wind sie mit sich trug. Es sah aus, als würden Millionen von winzigen Diamanten aus dem Himmel fallen.

„Bekomme ich dennoch einen Kuss? Irgendwie müssen die fehlenden Nordlichter doch zu kompensieren sein."

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

Mit leuchtenden Augen legte ich meine Hände in seinen Nacken und zog ihn leicht zu mir hinunter. Liebevoll strich ich über sein Haar, auf dem die Schneeflocken einen wunderschönen Kontrast darstellten. „Jeg elsker deg, Adrian", flüsterte ich und küsste ihn. Zuerst sanft, dann fordernder, bis mich unsere heiße Leidenschaft alles um mich herum vergessen ließ. 

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now