Kapitel 60

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Stundenlang starrte ich in die Dunkelheit, in der mich das Kratzen im Hals und das Beben meines Körpers begleitete. Durch das Zähneklappern dröhnte mein Kopf und meine Glieder waren durch die Kälte und Haltung steif. Flach und langsam atmete ich ein und aus, denn die Kälte brachte meine Lungen beinahe zum Bersten. Nur diese Dinge nahm ich wahr. Draußen herrschte absolute Stille, die nicht ansatzweise bedrückend war.

Obwohl Svens Worte und die gesendeten Bilder durch meinen Kopf gingen, vergoss ich keine Tränen. Was war nur los mit mir? Befand ich mich wirklich in einem Traum, in dem ich nicht sterben konnte? Wenn es so war, warum wachte ich nicht auf?

Ich spürte, wie mein Körper weiter herunterfuhr und schloss meine Augen. In mir breitete sich eine Ruhe aus, die ich in den letzten Monaten nur selten erlebt hatte und doch konnte ich nicht einschlafen.

Plötzlich erklangen von weit her Stimmen und ein Poltern. Unfähig, mich zu rühren, lauschte ich dem Gespräch, doch durch den Nebel in meinem Kopf verstand ich nichts.

Wer zur Hölle war das?

Ich versuchte, mich aufzurichten, doch mein Körper wehrte sich gegen jegliche Bewegung. Waren das Wilderer, die in fremde Hütten einbrachen? Das konnte in manchen Gegenden vorkommen, doch in der Umgebung von Narvik hatte ich nichts dergleichen mitbekommen.

Schlagartig wurde die Tür aufgestoßen und ich zuckte zusammen.

Das kann nicht wahr sein!

„Sie ist hier, Idun. Gib Sven bitte Bescheid. Wir kümmern uns um sie", keuchte Adrian. „Ich melde mich später."

„Ich hole Decken und mache den Kamin an." Die Stimme gehörte zu seinem Sohn.

Ich konnte nicht fassen, dass Adrian und Nicholas hier waren! Das musste ein Traum sein!

Hinter mir nahm ich eine Bewegung wahr und dann legte sich eine Hand um meinen Körper. Sie zog mich an einen anderen heran und hielt mich fest.

„Ich bin da, Freyja", flüsterte Adrian an mein Ohr. „Du bist nicht allein."

Kurz darauf wurde eine Decke über uns ausgebreitet, dann noch eine und schließlich eine dritte. An meinem Rücken spürte ich Adrians Bewegungen. Dann wurde ein Kissen unter unsere Köpfe geschoben und Adrian zog mich wieder an sich.

„Adrian ...", brachte ich heiser hervor.

Ein Kuss auf meinen Hinterkopf reichte aus, um die Gewissheit zu haben.

Er war da und fing mich auf. Holte mich aus dem Loch, das mich seit Svens Anruf verschluckt hatte. Seine Arme waren mein Anker, an dem ich mich festhalten konnte und endlich platzte der angestaute Knoten in meinem Inneren.

Ein Schluchzen verließ meine Lippen und die Tränen begannen, unaufhörlich auf das kalte Kissen zu tropfen. Ich hielt meine Augen geschlossen, da sie meine Sicht verschwimmen ließen. Mich in die Arme schmiegend, brachen alle Gefühle aus mir heraus. Adrian ließ mich weinen und schreien, bis meine Stimme abbrach.

Mit der Zeit wurde es um mich herum wärmer und langsam bekam ich wieder ein Gefühl in meinem Körper, der durch die letzten Stunden an seine Grenzen gebracht wurde. Mir ging es hundeelend, doch Adrians Nähe linderte die Schmerzen und auch meinen Kummer.

„Warum? Warum nur ...?", fragte ich immer wieder mit tränenerstickter Stimme.

„Sch ...", flüsterte Adrian beruhigend an meiner Kopfhaut. Sanft drückte er mich etwas fester an sich und bettete seine Hand unter meinem Kopf.

Ich kuschelte mich an sie, hielt sie fest und sog zwischen den Atemzügen den Geruch seiner Lederjacke in mir auf. Noch immer quollen die Tränen unaufhaltsam hinter den Augenlidern hervor und ich spürte, dass sie genauso am Leder entlangliefen wie mein Schnodder aus der Nase. Dafür sollte ich mich schämen, aber Adrian schien es mir nicht übelzunehmen. Er nahm mich, wie ich war und akzeptierte, dass ich mich bei ihm gehen ließ.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt