Kapitel 18

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Ich schloss die Tür hinter mir und atmete tief ein. Dabei lehnte ich mich an die Tür und streifte meine Schuhe ab. „Sven?", rief ich. Wie immer war es ruhig und ich ahnte, dass er lernte.

„Freyja?", erklang die Antwort von oben. Gleich darauf erschien seine hagere Gestalt und ich sah seine Besorgnis. „Wo warst du so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht und dich nicht erreicht", sagte er und kam die Treppe hinunter.

„Ich habe Adrian, Nic und Suvinna mitgenommen und war mit ihnen einkaufen. Danach habe ich sie nach Hause gebracht", erklärte ich mit einem Anflug an schlechtem Gewissen und legte die Schlüssel in die kleine Schale. Diese hatte ich vor langer Zeit im Bastelunterricht der Schule gemacht und zusammen mit Erik bemalt. Ein Meisterwerk war sie nicht, dafür war sie zu unförmig und besaß mehr Macken als eine zersprungene Tasse. Und dennoch konnte ich mich von dem antiken, zerfallenden Teil nicht trennen, sondern benutzte Kleber, wenn nötig. „Ich wollte nicht, dass er bei dem Sturm mit dem Motorrad fährt."

Ich zog mein Smartphone hervor und biss auf meine Lippen. Tatsächlich hatte Sven mehrmals versucht, mich zu erreichen. Warum hatte ich es nicht mitbekommen? Den Grund dafür fand ich schnell heraus, denn aus Versehen musste ich es auf lautlos gestellt haben. „Verzeih, ich habe nicht bemerkt, dass mein Smartphone auf lautlos war." Ich hätte ihn auch anrufen können, doch ich wollte ihn nicht beim Lernen stören. Dabei war er in seiner eigenen Welt und bekam kaum etwas von der Außenwelt mit.

Sven kam auf mich zu und nahm mich in den Arm, ehe er sich löste und mir liebevoll über die Wange strich. Tief sah er mir in die Augen und mein Herz klopfte plötzlich schneller. Der Moment war ... merkwürdig. Irgendwie seltsam, doch ich wich nicht zurück, als Eriks Bruder näherkam und kurz vor meinen Lippen innehielt. Dort verharrte er einige Sekunden, ehe er den kleinen Abstand überwand und mich küsste.

Völlig überrumpelt, dass Sven – ausgerechnet er, der bisher nie Interesse an Frauen gezeigt hatte! – mich küsste. Seine Lippen waren warm und angenehm, doch sie lösten nicht diesen kleinen Funken an Glück aus, wie es bei Erik der Fall gewesen war. Ich sollte sofort zurückweichen, aber ich konnte mich nicht bewegen. In meinem Kopf ratterte es und ich versuchte krampfhaft, das gleiche Gefühl wie bei seinem Bruder zu spüren. Das war leider nicht der Fall und ich atmete leise aus, als sich Sven wieder von mir löste. Schüchtern, fast schon entschuldigend sah er mich an und zwischen uns entstand eine peinliche Stille. Diese brach ich mit einem Räuspern und einem zaghaften Lächeln.

„Ich gehe duschen, dann können wir Abendessen machen, ja?" Meine Stimme klang nicht so fest, wie ich es gerne hätte und ich hoffte, dass er meine Verunsicherung nicht anmerkte.

„War ... der Kuss so schlecht?", fragte Sven niedergeschlagen.

„Nein, nein!", rief ich hastig und legte meine Hand an seine Wange. Schlecht war er nicht gewesen, nur ... langweilig, ohne Funken. Ich konnte es nicht beschreiben, aber ich wollte Sven auch nicht verletzen. Wenn es sein erstes Mal war, brauchte er lediglich Übung und ich war nicht darauf erpicht, ihn von Anfang an zu entmutigen.

„Bist du sicher?"

Energisch nickte ich. „Wirklich. Ich war nur überrascht. Damit habe ich am wenigsten gerechnet." In seinen Augen glänzte ein Hoffnungsschimmer und ich zwang mich zu lächeln. „Es tut mir leid, wenn ich dir Sorgen gemacht habe. Das lag mir fern. Aber jetzt werde ich rasch duschen gehen."

Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und erklomm fluchtartig die Treppe. Im Badezimmer lehnte ich mich mit heftig klopfendem Herzen gegen die Tür und schloss die Augen. Was war gerade eben nur geschehen? War es Zufall gewesen und der Kuss war einfach so zustande gekommen? So ganz konnte ich es nicht einordnen, doch eins wusste ich mit Sicherheit: Ich mochte Sven, hegte allerdings nicht die gleichen Gefühle wie für Erik. Auch wenn er nicht mehr da war, so fühlte sich der Kuss wie ein Betrug an und das schlechte Gewissen nagte an mir wie ein Hund an seinem Knochen.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now