Kapitel 57

89 19 63
                                    

Am Wochenende bekamen wir endlich die lang ersehnte Verschnaufpause vom Schneefall. Jeder in Andenes atmete erleichtert auf, während der Räumdienst alle Hände voll zu tun hatte.

Da ich allein zuhause war, beschloss ich, anderen beim Schneeschippen zu helfen. Adrian übernahm die Frühschicht im Hotel, da Bjørn einen Skiausflug mit seiner Familie unternahm. Eira würde für ein paar Stunden am Mittag da sein und ich hatte mich angeboten, die Abendschicht zu leiten. Dazu gehörte auch das Servieren des Abendessens. Gemeinsam mit den Köchen war das ein Kinderspiel.

Mit einer Schaufel ausgestattet stiefelte ich die beleuchteten Wege entlang und besuchte die älteren Anwohner, von denen ich wusste, dass sie die Schneemassen nicht allein bewältigen konnten.

Ich war jedoch nicht die Einzige, denn ich begegnete zahlreichen Jüngeren, die zum Spaß Wettkämpfe bestritten, wer als erstes mit dem Schneeschippen fertig war. Manche erkannte ich erst, als wir aneinander vorbeiliefen. Durch die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt war es ein Muss, sich mit dem Zwiebellook warmzuhalten. So nervig es war, mehrere Schichten an Kleidung zu tragen, so wichtig war es.

Es war jedes Jahr aufs Neue faszinierend, wie sich die Anwohner gegenseitig halfen und der Stolz ließ mein Herz beinahe platzen.

Ich winkte einer zierlichen älteren Dame zu, die trotz der Kälte im Morgenmantel bekleidet gerade die Morgenzeitung aus ihrem Briefkasten holte.

„God Morgen, Hedda! Brauchst du Hilfe?"

„God Morgen, Freyja", erwiderte sie mit einem Lächeln. „Danke, ich nehme dein Angebot gerne an." Sie rückte das hellgraue Wolltuch auf ihrem Kopf zurecht und nickte zum Haus. „Komm nachher für einen Kaffee herein, ja? Yall würde dich sicher auch gern wieder sehen."

„Sobald ich fertig bin", versprach ich lächelnd.

Obwohl Hedda nicht viel sprach und auch sonst als ruppig bezeichnet wurde, ging sie mit ihrem Mann Yall liebevoll um. Seit seinem Unglück mit dem Traktor war er körperlich zum Pflegefall geworden, doch anstatt ihn in ein Altenheim zu geben, bestand Hedda strikt darauf, ihn selbst zu versorgen. Das brachte sie oft an ihre Grenzen, und doch schien sie die Tätigkeit zu lieben. An sich war es kein Wunder. Die beiden waren seit über 50 Jahren verheiratet und hatten die schwersten Zeiten gemeinsam überwunden. Ich ahnte, dass sie auch die letzten Jahre durch dick und dünn gehen würden.

Das war eine Fähigkeit, die ich an den meisten älteren Anwohnern bewunderte. Im Gegensatz zur heutigen Generation, die bei den kleinsten Problemen eine Beziehung abbrach und die Fliege macht, schweißte jeglicher Streit die Älteren zusammen.

Sobald Hedda im Haus verschwunden war, begann ich, ihre Einfahrt freizuschaufeln. Die Menge an Schnee verriet mir, dass sie in den letzten Tagen Hilfe von anderen bekommen hatte. Daher kam es, dass ich nach einer halben Stunde bei ihr klingelte und mit einer dampfenden Tasse begrüßt wurde.

„Komm herein, Freyja und stärke dich."

Was genau sie damit meinte, erfuhr ich, als sie mich in ihre Küche mit dem altmodischen Kaminherd führte. Dort wurde ich von einer angenehmen Wärme, aber auch von einem reichgedeckten Frühstückstisch mit frischgebackenem Brot empfangen. Ich wusste, dass Hedda niemals Brot aus dem Supermarkt kaufte, sondern lieber in den frühen Morgenstunden aufstand, um eins herzustellen.

„Oh, Hedda!" rief ich aus. „Das hätte doch nicht sein müssen!"

Verstohlen wischte ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln und legte meine Oberbekleidung ab.

„Nichts muss sein außer der Tod, Freyja. Alles andere ist freiwillig", erwiderte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Mach es dir gemütlich, ich hole Yall."

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now