In Henrys Armen zu liegen und sein munter schlagendes Herz an meiner Wange zu spüren, während er mir ein paar Geschichten aus seiner Italienzeit erzählte, war aufregend und beruhigend zugleich. Es war, als gehöre ich genau hierhin.
Als wir uns noch vor zwei Tagen nicht nur ein Zelt, sondern auch einen Paarschlafsack geteilt hatten, hatte ich nicht genügend Abstand zwischen uns bringen können, aus Angst mich an ihm zu verbrennen, wenn sich auch nur unsere Ellbogen berührten. Jetzt konnte ich mich nicht nah genug an ihn heran kuscheln, drückte mich sogar immer wieder an seine Brust und vergrub mein Gesicht in seinem Schlafshirt.
Zwei Tage war die Zeltnacht her. Das waren achtundvierzig Stunden. Mehr nicht und es kam mir vor, als wären seither zwei Wochen vergangen. Konnte man sich wirklich innerhalb weniger Tage in jemanden verlieben? Irgendwo weit hinten in meinen Gedanken keimte die Frage auf, ob ich nicht schon vor unserem spontanen Kurzurlaub etwas für ihn empfunden und mir das nur nicht bewusst gewesen war. Vielleicht hatte ich mir das auch unterbewusst selbst ausgeredet, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Andererseits war er mir schon sehr auf die Nerven gegangen. Jedoch konnte ich darüber ewig philosophieren und würde wahrscheinlich nie eine richtige Antwort darauf finden. Wichtig und mir vollkommen bewusst war das Hier und Jetzt und die Zukunft, die vor uns lag.
„Ich bin also mit den Jungs in den Park und wir waren total aufgeregt, wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten, wenn wir auf die Clique aus der Zehnten treffen. Je krampfhafter wir versucht haben, cool zu wirken, desto mehr hat man uns unsere Kindlichkeit angesehen. Das war so peinlich damals, aber heute ist die Story einfach nur funny", erzählte er und strich sich lachend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er wirkte so gelassen, wenn er mir Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Manchmal leuchteten seine Augen, vor allem wenn es dabei um seine Zeit in Italien ging – so wie gerade, als er mir von sich und seinen Freunden erzählte, wie sie beim Fußballspielen im Park ein paar coole Jungs aus der höheren Klasse getroffen und versucht hatten, sich mit ihnen anzufreunden.
„Hat das denn trotzdem geklappt?", fragte ich nach, auch wenn ich die Antwort darauf bereits kannte. Als ich fünfzehn war, hätte ich auch nicht mit Zwölfjährigen abhängen wollen.
Er warf mir einen Blick unter hochgezogenen Augenbrauen zu. „Natürlich nicht. Sie haben uns ausgelacht und unseren Ball in hohem Bogen ins Gebüsch geschossen. Zwei von ihnen haben schon geraucht und uns lachend den Qualm ins Gesicht gepustet."
„Das ist eklig und fast schon leichte Körperverletzung", sagte ich und hatte plötzlich Mitleid mit Klein-Henry und seinen Freunden. Ein einfaches Nein hätte ja auch gereicht. Doch Henry zuckte nur mit den Schultern und grinste.
„Ich kann es ihnen nicht verübeln, wir waren absolut nicht cool - noch nicht einmal witzig - und bestimmt hätten wir uns nicht so einfach abwimmeln lassen. So haben wir zumindest schnell das Weite gesucht und es nie wieder versucht. So cool fanden wir sie dann doch nicht." Wieder lachte er und schüttelte bei der Erinnerung den Kopf.
Es folgten dann noch ein paar weitere Geschichten von den Lausebengeln, die entweder nach Abenteuern oder Nervenkitzeln suchten, sowohl in der Freizeit als auch in der Schule. Henry erzählte viel und brachte mich bei jeder Geschichte mindestens einmal zum Lachen und ich hörte ihm gerne zu. Währenddessen schaute ich ihn aber noch viel lieber an, denn das Strahlen in seinen Augen, das dauerhafte Lächeln und Grinsen auf seinen Lippen und seine untermalenden, fast schon lebhaften Gesten könnte ich mir stundenlang anschauen, selbst wenn er mir nochmal das Einmaleins oder den Aufbau eines Verbrennungsmotors erklären würde.
Mein Blick fiel auf seine Lippen, über die so viele Worte gingen, die ich schon längst nicht mehr wahrnahm, und verharrte dort. Sie waren fein geschwungen und so weich! Der Gedanke an den letzten Kuss versetzte mein Herz in den High-Speed-Modus. Mein Gehirn dagegen schaltete sich auf Standby. Völlig gleichgültig, worüber Henry gerade redete, legte ich ihm die Hand in den Nacken und legte meine Lippen auf seine.
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Alle Wege führen nach Rom
ספרות נוער*ABGESCHLOSSEN* „Willst du nicht hierher kommen?", ertönte Henrys Stimme. Ich drehte mich zu ihm um und entdeckte ihn am Mittelgang, wo er auf zwei freie Plätze direkt nebeneinander deutete. Ich zog beide Augenbrauen nach oben. „Das Pensum deiner l...