34. Möchte-gern-Lewis-Hamilton

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Unter normalen Umständen hätte ich Henry bei solchen kriminellen Vorschlägen so zusammengefaltet, dass er freiwillig in den Knast gegangen wäre, ohne auch nur eine Straftat begangen zu haben. Doch unsere aktuelle Lage war alles andere als normal, weshalb ich diesen Vorschlag wie ein Gebot entgegennahm und Henry widerstandslos folgte.

Der Roadtrip hatte uns zu skrupellosen Kleinkriminellen gemacht, die glaubten, Kriminalität mit Kriminalität bekämpfen zu können. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass Henry es irgendwie schaffte, die Antenne des alten Mercedes abzubrechen, sie in den Türschlitz zu stecken und damit den Entriegelungsknopf an der Fahrertür von innen zu betätigen. Der erste Stein fiel mir auf dem Beifahrersitz von Herzen, sobald Henry den Wagen von Innen wieder verriegelte. Allerdings verschwendete er keine Zeit zum Durchatmen, sondern widmete sich zügig dem nächsten Schritt: Dem Kurzschließen. So ganz neu war mir die Technik nicht, immerhin hatte ich das schon oft in Filmen oder im Fernsehen gesehen, als er die Abdeckung unterm Lenkrad entfernte und dort nach den maßgebenden Kabeln suchte.

Nervös schaute ich durch die Heckscheibe. Die aggressionsdurstigen Delinquenten hatten den Wagen beinahe erreicht. Wenn Henry es nicht schaffte, dieses dämliche Auto in den nächsten Sekunden zum Leben zu erwecken, dann half wahrscheinlich nur noch ein Wunder von oben. Noch immer schoss das Adrenalin durch meine Adern und mein rechtes Bein wippte stetig auf und ab. Warum dauerte das denn auch so lange?

Als ich meinen Blick wieder auf meinen Komplizen richtete, friemelte er schon an zwei roten Kabeln herum, ehe er ein drittes hervorzog und die Drahtenden aneinanderlegte. Er versuchte mehrfach, eine Reaktion seitens des Autos hervorzurufen, und beim vierten Mal sprang der Motor endlich an. Zwar erst schwach, sodass Henry den Motor erst genügend drehen ließ, damit er nicht absterben konnte, aber er hatte es geschafft.

Wütendes Gebrüll drang zu uns. Ein weiterer Blick nach hinten ließ meine Augen entsetzt weiten.

„Henry, sie sind da! Fahr endlich!", brüllte ich verzweifelt los und als der erste Schlag auf die Kofferraumklappe durch den Innenraum schallte, drückte Henry aufs Gaspedal und manövrierte den Wagen geschickt aus der kleinen Parklücke ohne auf die sich in den Weg stellenden Dreckskerle Rücksicht zu nehmen.

„Pass auf!", schrie ich erschrocken auf, als einer der Typen vors Auto sprang, doch Henry schien das nicht im geringsten zu stören, denn er trat sdas Gaspedal weiter durch und riss das Lenkrad bestimmt zur Seite, sodass der Volldepp freiwillig zur Seite sprang.

„Ihr verdammten Bastarde!", schrieen sie uns noch hinterher, ehe sie es aufgaben und mitten auf der Straße mit zornigen Mienen stehenblieben und uns eine Verwünschung nach der anderen hinterherriefen – sowohl verbal als auch mit netten Handgesten. Als wir an den ersten drei Arschlöchern mit den deformierten Gesichtern vorbeifuhren, wollte Alois sich ebenso vor uns schmeißen, doch Gangsterbubi zog ihn bestimmt zurück. Er sagte zwar kein Wort, aber der Hass in seinen Augen hätte in einer phantastischen Welt den Motor zum Explodieren bringen können.

„Oh mein Gott", stieß ich die ersten Worte der großen Erleichterung aus, als mir bewusst wurde, dass wir gerade nur knapp glimpflich davongekommen waren. „Wir haben überlebt. Wir haben es verdammt nochmal geschafft. Scheiße, wir sind fast draufgegangen!"

Erst als das Adrenalin langsam abebbte, wurde mir so richtig bewusst, was in der letzten halben Stunde eigentlich geschehen war. Bei dem Versuch, die Erlebnisse Revue passieren zu lassen, konnte ich mich nicht mehr recht entsinnen, an welchem Punkt genau sich unsere Postkarten-Ekstase in ein brutales Intermezzo transformiert hatte.

Oh mein Gott.

Fuhren wir gerade wirklich mit einem gestohlenen Auto durch Nizza?

In der nächsten Sekunde lachte ich laut los. Warum genau ich lachte war mir selbst schleierhaft, denn die Lage war alles andere amüsant, und dennoch saß ich hier in unserem gestohlenen Mercedes nach einer gewaltsamen Prügelei und lachte.

Alle Wege führen nach RomWhere stories live. Discover now