15. Strohhalm aus Papier

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„Ich kann mich nicht entscheiden."

„Nimm das Weiße, damit macht man nie was falsch", riet Henry mir und deutete auf das entsprechende Shirt. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe, denn er hatte recht. Weiße Hard-Rock-T-Shirts waren zwar klassisch, aber beliebt.

„Außerdem können wir dann demnächst im Partnerlook gehen", fügte er allerdings grinsend hinzu, weshalb mir die Entscheidung prompt ganz leicht fiel.

„Ich nehme das Schwarze, von den anderen habe ich schon genug im Kleiderschrank", verkündete ich und legte das weiße T-Shirt wieder weg. An der Kasse vergaß ich mal wieder, dass ich temporär arm war, weshalb ich beinahe eine Argumentation mit Henry angefochten hätte, als er mich darum bat, meine Einkäufe ebenfalls auf den Tresen zu legen. Hoffentlich hatte die spanische Polizei mein Portemonnaie finden können – mitsamt Inhalt.

Da ich mich mittlerweile prächtig von meiner Seekrankheit erholt hatte und unsere letzte Mahlzeit schon wieder sechs Stunden her war, beschlossen wir, den Tag mit einem Dinner in diesem Restaurant zu beenden. Außerdem hatte ich mal wieder so richtig Lust auf überbackene Nachos.

Allerdings mussten wir noch ein paar Minuten mit dem Dinner warten, denn anscheinend war das Diner heute Abend sehr gut besucht, wodurch noch drei weitere Gruppen und Paare vor uns auf einen freien Tisch warteten. Kurz nach uns fragte ein älteres Ehepaar von ungefähr Anfang siebzig mit einem gebrochenen Englisch ebenfalls nach einem Tisch. Dem Akzent nach zu urteilen handelte es sich bei ihnen um Franzosen, was sich auch sogleich in einem Privatgespräch bestätigte, als sie überlegten, ob sie wirklich hier essen oder lieber woanders hingehen wollten. Letztendlich überredete der Mann seine Frau dazu, sich in die Warteschlange einzureihen, um das weltberühmte Restaurant auszuprobieren. Die beiden waren unheimlich süß zusammen, wie sie dort in ihrer braven Seniorenrobe standen und neugierig die anderen Gäste beobachteten.

Henry beugte sich zu mir runter und fragte mich, ob ich damit einverstanden sei, die beiden vorzulassen, damit sie nicht so lange warten mussten. Obwohl ich nichts lieber täte, als mich nach diesem langen Tag endlich zu setzen und Nachos zu verspeisen, stimmte ich ohne zu zögern dem Vorschlag zu.

„Dann übernimm du das Reden, ich habe nämlich vergessen, was ‚warten' nochmal auf Französisch bedeutet."

Meine Mundwinkel hoben sich zu einem belustigten Grinsen. „Dann höre ganz genau zu und lerne!"

Lächelnd drehte ich mich um und vollführte eine einladende Geste, ehe ich auf Französisch sagte: "Si vous le souhaitez vous pouvez passer devant nous une table. Comme ça vous ne devez plus attendre longtemps."

Die Augen der beiden strahlten mit den Lippen im Einklang, bis der Herr höflich an seinen Hut tippte und antwortete: „Also wenn eine junge Dame uns das so herzlich anbietet, können wir nicht Nein sagen. Nicht wahr, Hélène?"

„Das ist wirklich sehr lieb von euch, vielen lieben Dank!", pflichtete Hélène ihm bei. Sogleich reihten sie sich vor uns ein, allerdings schienen sie nicht zu beabsichtigen, die Kommunikation damit auch für beendet zu erklären. „Ihr kommt also auch aus Frankreich?"

„Nein, wir sind Deutsche", klinkte sich nun auch Henry in die Unterhaltung ein. „Wir machen hier eher einen unfreiwilligen Urlaub."

„Unfreiwillig?"

„Wir sind eigentlich auf Klassenfahrt, aber im Gegensatz zu unserer Klasse sind wir aus Versehen in den falschen Flieger gestiegen", erklärte ich. Die übliche erschrockene Reaktion folgte, wurde aber schnell von verschwörerischen Glückwünschen abgelöst. Warum verhielten die Leute sich immer gleich, als wären Henry und ich in unseren Flitterwochen? Wir waren gestrandete Schüler einer Klassenfahrt – ohne Klasse!

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