9. Auf ein starkes Nervensystem!

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Die Straßen Barcelonas hoben meine Stimmung eher auf lausigem Niveau.

Zuerst kam ich mir in meinen schwarzen Leggings, dem etwas zu großem Merchandise-Shirt von einem irgendeinem deutschen YouTuber und den schwarzen Nikes, die ich mir extra der Bequemlichkeit wegen für die Klassenfahrt gekauft hatte, etwas gammelig vor. Kurz vor unserem Aufbruch hatte ich sogar überlegt, mir etwas Ansehnlicheres überzuziehen, hatte mich aber letztendlich von Henrys manipulativen Charme überzeugen lassen, dass ich trotzdem gut aussah.

Ich hatte keine Ahnung, wie der Charmebolzen es geschafft hatte, mir ein so gutes Kompliment zu geben, dass er mich a) nicht gleich darauf wieder beleidigte und b) ich mich wie eine stylische Instagramerin fühlte, die selbst in Jogginghose und zerzaustem Dutt sexy aussah. Dieser Reiz hielt allerdings nur eine halbe Stunde an, denn ich hatte das Gefühl, dass mich die ganzen Spanier mit kritischem Blick musterten. Hatte Henry das etwa mit Absicht gemacht, damit er selbst in seinen engen Jeans und dem schlichten weißen Shirt noch besser aussah? Zutrauen würde ich es ihm auf jeden Fall.

Wir hatten bisher nicht viel gemacht, denn allein der Fußweg ins Zentrum unseres Viertels hatte uns zwanzig Minuten gekostet. Dort angekommen waren wir zuerst durch die die historischen Ladenstraßen geschlendert, nachdem wir uns ein Eis gegönnt hatten. Während ich zwei Bällchen mit Cookie Dough und Pistazie im Becher genoss, leckte Henry Haselnuss und Vanille aus einer Waffel.

Auf dem Weg hierher hatten wir nicht viel geredet, höchstens ein wenig SmallTalk gehalten über das Wetter und die Richtung unseres Weges und was wir gerne in Barcelona machen würden. Ansonsten hatten wir mehr über den spanischen Flair und die besondere Architektur gestaunt, auch wenn wir den berühmten Gaudi-Bauwerken noch nicht über den Weg gelaufen waren.

„Wie schmeckt dein Eis?", erkundigte sich Henry und leckte einmal großzügig durch sein Vanillebällchen. Ich steckte mir einen Löffel Cookie Dough in den Mund und nickte zufrieden.

„Wirklich gut, hätte ich nicht gedacht, denn besonders vielversprechend hat der Laden nicht ausgesehen", sagte ich und es stimmte. Die Eisdiele hatte mehr an Harry Potters Treppenbunker bei den Durselys erinnert als an ein gastronomisches Gewerbe, aber sie hatten sehr viele Eissorten zur Auswahl gehabt. Wahrscheinlich kauften ihre Kunden überwiegend ein Eis zum Mitnehmen, weshalb sich großartige Sitzgelegenheiten nicht lohnten.

„Und deins?"

„Ausgezeichnet. Das Eis war eine super Idee."

Dann herrschte wieder Schweigen. Es war wirklich seltsam, mit Henry Falkner durch die Straßen Barcelonas zu bummeln. Immerhin konnten wir uns kaum leiden. Dass wir uns bisher nicht die Köpfe eingeschlagen hatten, grenzte schon fast an ein Wunder. Seit wir losgegangen waren, hatte Henry nur zweimal irgendeinen eitlen Spruch von sich gegeben, den ich jedes Mal ignoriert hatte, da ich keine Nerven zum Kontern gehabt hatte. Das war ihm wohl nicht entgangen, denn danach schien er etwas zurückhaltender mit seinen Sprüchen zu sein. Stattdessen hatte er mich gefragt, ob ich eine bestimmte Touristenattraktivität im Sinn hätte, zum Beispiel die Sagrada Familia oder das Picasso-Museum.

„Ich hasse Museen, insbesondere was Kunst betrifft", sagte ich trocken. „Die sind sterbenslangweilig. Und die Kathedrale klingt zwar interessant, aber ich glaube die ist noch ein gutes Stück von hier entfernt. Können wir heute nicht einen ruhigen machen und morgen Jagd nach Sehenswürdigkeiten machen?"

Außerdem war ich müde und wollte endlich wieder mit einer normalen Person reden – und zwar mit meiner Mutter und Anna oder mit meinem Vater. Zudem nahm es mich ein wenig mit, dass ich nicht wusste, wie es ihnen wohl ging und ob sie schon von unserem Dilemma erfahren hatten. Falls ja, hoffte ich, dass sie sich nicht allzu große Sorgen machten.

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