20. Carcassonne

184 27 57
                                    

Auch wenn sich Maelle und Francois mehrmals entschuldigten und anboten, alle drei Kinder auf die mittlere Rückbank zu verfrachten, damit Henry und ich ein bisschen Ruhe hatten, blieben wir bei unser Entscheidung, vorerst in Carcassonne zu bleiben. Wir begründeten unseren Beschluss mit der kleinen Notlüge, dass sich jetzt die perfekte Gelegenheit bot, sich die Stadt anzuschauen und es ein Jammer wäre, würden wir diese Gelegenheit nicht ergreifen.

„Aber meintet ihr nicht, ihr wollt zu eurer Klasse nach Rom?", fragte Francois nochmal nach.

Henry winkte leger ab. Mittlerweile trug er das T-Shirt vom Hard-Rock-Café – das schmutzige Shirt hatte er in eine Plastiktüte gesteckt, nachdem er das Gröbste rausgewaschen hatte. „Schon, aber wir haben ja noch ungefähr eine Woche Zeit", flunkerte er ein wenig. „Außerdem können wir durch gelegentliche Abstecher unsere Zweisamkeit viel besser auskosten."

Um seiner Aussage mehr Wahrheitsgehalt zu verpassen, schlang er mir einen Arm um die Taille und zog mich lächelnd zu sich heran. Ich wehrte mich nicht. Diesmal war ich ihm dankbar für dieses Argument, denn es überzeugte die beiden letztendlich, dass wir ihnen nichts übelnahmen und sie uns getrost hier lassen konnten. Allerdings ließen sich die beiden nicht davon abbringen, uns wenigstens direkt in die Stadt zu bringen, denn vom Rastplatz aus gab es schließlich keine Busverbindung.

Der Abschied fiel nicht so herzlich aus wie bei Pierre und Hélène und Álvaro, sondern beschränkte sich auf eine kurze Umarmung von Maelle, einen kleinen Händedruck von Francois und mürrische Mienen von den Kindern. Cédric fragte Henry sogar, ob er noch etwas von dem Lakritz haben durfte und da Henry das Zeug wohl nicht mehr sehen konnte, war er froh, dass er es loswerden konnte. Trotzdem nahm Francois es an sich, um eine weitere Magendrehung zu verhindern.

Mit aufgesetztem Lächeln winkten wir ihnen hinterher, bis sie hinter einer Reihe von Bäumen endlich verschwanden.

„Und jetzt?", fragte ich Henry, der ebenso ratlos dreinschaute wie ich. „Ich hoffe nicht, dass wir unsere einzige Möglichkeit nach Narbonne weggeschickt haben."

„Wir haben noch das Schild", merkte Henry an.

Wow – welch sagenhafte Rettungsmöglichkeit.

„Wenn das nicht fliegen kann, sind unsere Chancen sehr begrenzt."

„Sorry aber mein Teppich hat leider nicht mehr in den Rucksack gepasst."

Unsere Blicke trafen sich: eigensinnig und ein wenig geschafft. Trotzdem kicherten wir gleichzeitig los, als wäre unsere fast aussichtslose Lage urkomisch. Dabei wussten wir nicht einmal, ob wir es noch rechtzeitig nach Rom schafften und eigentlich sollte mich dieser Gedanke mehr stressen als die bevorstehende Abiturphase.

„Meinst du, jemand fährt jetzt noch nach Narbonne?", stellte Henry schließlich die Frage, woraufhin ich seufzte.

„Ich weiß es nicht", antwortete ich und schaute auf die Uhr, die uns kurz vor sechs anzeigte. Aber was blieb uns denn auch anderes übrig? Seit einigen Minuten liefen wir die Stadtmauer der Altstadt von Carcassonne entlang, die mich trotz der ganzen Touristen in eine mittelalterliche Atmosphäre zog. Der Ausblick bot weite Täler und kleinere umliegende Städte, während sich die massiven Burgmauern hinter uns in den Himmel streckten. Auch wenn ich gerne direkt unseren Weg nach Rom fortgesetzt hätte, war ich dennoch froh, dass wir uns diese altertümliche Stadt noch anschauten. Die meisten historischen Städte lagen entweder in Ruinen, waren saniert, restauriert oder notgedrungen in die moderne Stadtarchitektur integriert worden, während Carcassonne fast wie eine Bühnenkulisse aus einer Geschichtsdokumentaion wirkte.

„Ich glaube allerdings, dass wir diese Nacht hier verbringen müssen", mutmaßte ich. „Die Chance, dass wir jemanden treffen, der heute noch nach Narbonne fährt, ist wirklich sehr gering. Außerdem finde ich das gerade gar nicht so schlecht, Carcassonne scheint eine wirklich sehr interessante Stadt zu sein."

Alle Wege führen nach RomWhere stories live. Discover now