Kapitel 74: Cole

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„Hier werden wir unser Lager aufschlagen", sagte sie und blieb stehen. Der Rest der Truppe tat es ihr nach, ich eingeschlossen.

Neugierig sah ich mich um. Wir befanden uns in einem Wald. Wie tief, wusste ich nicht, dafür kannte ich diesen Wald zu wenig. Die letzten Sonnenstrahlen schienen nur spärlich durch das Blätterdach über uns hindurch.

Als ich mich mehr auf die Geräusche in der Umgebung konzentrierte, fiel mir zum ersten Mal auf, wie still es war. Ich hörte weder das Rauschen eines Flusses noch das Piepsen eines Vogels. Es war beinahe unheimlich.

„Ich habe gar kein Zelt dabei", bemerkte ich, als ich den anderen dabei zusah, wie sie fleißig am Aufbauen waren.

„Das macht nichts. Yori hat sicherlich noch einen Platz frei in seinem Zelt", erwiderte sie und wies auf den Mann mit dem wirren Haar und dem grünen Hemd. Sie trank einen Schluck Wasser aus ihrer Bota. „Mein Name ist übrigens Aki. Und die anderen beiden da hinten sind Vex und Darin."

Ich nickte. „Mich könnt ihr Corin nennen." Es war nicht mein echter Name, doch die Geschichte, die ich ihr über mich erzählt hatte, war auch gelogen. Ich hielt es für besser, so wenig wie möglich von mir preiszugeben. Außerdem . . . vielleicht war dies die Chance für einen Neubeginn.

„Freut mich dich kennenzulernen, Corin", sagte sie und reichte mir die Hand. Dann wanderte ihr Blick nach oben. „Wir sollten uns für die Nacht ein kleines Lagerfeuer anzünden. Komm, suchen wir ein wenig trockenes Holz."

Während die anderen drei weiter mit dem Aufbau des Lagers beschäftigt waren, sammelten Aki und ich Stöcker und kleine Äste auf und stapelten diese in der Mitte des Platzes. 

Als wir uns bereits ein gutes Stück entfernt hatten, blieb Aki stehen und kniete sich auf den Waldboden. „Wie gut kennst du dich mit Pflanzen aus?", fragte sie, ohne den Blick von den vor ihr liegenden Pilzen abzuwenden.

„Nicht gut genug", gestand ich und beugte mich zu ihr. „Aber so aus dem Bauch heraus, würde ich sagen, dass man die besser nicht essen sollte."

„Wenn man es nicht weiß, sollte man lieber die Finger davon lassen." Sie griff mit ihren Fingern um den Pilzstiel und pflückte ihn. „Aber keine Sorge, diese hier kann man ruhig essen. Hast du den Korb vorhin mitgenommen?"

„Ja." Ich nahm ihr den Pilz ab und legte ihn zu den Beeren, die wir bereits gesammelt hatten. Ich kam mir vor, als hätte die Zeit einen Sprung rückwärts gemacht und uns in ein längst vergangenes Jahrhundert geschickt, in dem man sein Essen noch selbstständig jagen und sammeln musste.

Während Aki mit aller Geduld die Pilze pflückte, dachte ich nach. Dieses Leben, das die Vier führten, war ein ganz anderes als ich es kannte. Sie lebten nicht in der Stadt und gingen zum Supermarkt, oder zur Schule, geschweige denn zur Arbeit. Sie haben sich von der gewöhnlichen Gesellschaft losgelöst und lebten so, wie es ihnen gefiel. 

„Darf ich dir eine Frage stellen?"

„Frag."

„Warum habt ihr euch dazu entschlossen eurer Leben so zu leben?"

„Aus demselben Grund, weshalb du dein altes Leben aufgegeben hast." Sie stand auf und ging weiter. „Andere Menschen sind so anstrengend. Dauernd erwartet irgendjemand etwas von dir. Du kannst es ihnen nie recht machen. Für sie zählt nur, wie viel Geld du verdienst, ob du ein Haus oder Frau und Kinder hast. Aber hat dich jemals einer gefragt, ob du glücklich bist?"

Ich dachte über ihre Worte nach. Sie waren sehr direkt. Und die Wahrheit, die sie mit ihnen aussprach, war jene, die ich die letzten Tage mit aller Kraft versucht hatte zu verdrängen.

„Aki", sprach ich ihren Namen aus, ohne recht zu wissen, wie ich meine nächste Frage formulieren sollte. „Ich, also - " Hastig versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. „Was ist dir in der Vergangenheit widerfahren, dass du so offen darüber sprechen kannst?"

„Offen worüber? Über die Verdorbenheit der Menschen?" Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. „Nun, ich habe sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ich war damals noch ein kleines Mädchen, zu jung, um zu begreifen, was da eigentlich geschah."

Geduldig hörte ich ihr zu.

„Meine Eltern haben mich unfreiwillig bekommen und mich nach meiner Geburt in ein Waisenhaus gegeben. In diesem Waisenhaus bekamen wir zu essen, ein Bett und ein Dach über den Kopf. Das war alles. Die Erzieher haben sich schlichtweg nicht für uns interessiert. Wärme und Geborgenheit hast du dort vergeblich gesucht." Sie stieß einen lauten Seufzer aus. „Eines Tages kam ein Mann und nahm mich mit. Er sagte, er wäre fortan mein neuer Papa und ich hatte endlich die Hoffnung, dass sich nun alles zum Besseren wenden würde. Doch es wurde nur noch schlimmer. Er schlug mich, wann immer ich mir einen Fehltritt erlaubte. Ich sollte den Haushalt machen, während er auf der Arbeit war, das Essen kochen, sodass es fertig war, wenn er nach Hause kam. Für ihn war ich ein billiges Haushaltsmädchen, für das er sogar noch Geld bekam. Und ich hatte mir einfach nur eine Person gewünscht, die mich so liebte, wie ich war."

„Das ist furchtbar", flüsterte ich und konnte meine Wut über diese Ungerechtigkeit kaum in Worte fassen. 

"Eines Tages bin ich weggelaufen und einem fremden Mann in die Hände geraten. Er sagte, wenn ich mit ihm komme, wird es mir gut gehen. Ich glaubte diesem Mann. Doch hinter verschlossenen vier Wänden zeigte er sein wahres Gesicht und missbrauchte mich. Mehrere Tage war ich in seinem Keller eingesperrt, ohne einen Funken Tageslicht und mit kaum mehr als ein Stück Brot am Tag. Als ich es schaffte zu fliehen, gelang es mir einen kleinen Job im Supermarkt anzunehmen. Bald darauf lernte ich einen neuen Mann kennen. Er war nett zu mir und lud mich auf einen Becher Eis ein. Wir verstanden uns gut, hatten denselben Humor und nach langer Zeit war er der erste, der es schaffte mich zum Lachen zu bringen. Als ich begann ihm von meiner Vergangenheit zu erzählen und er erfuhr, dass ich weder ein Haus hatte, noch viel Geld verdiente, verließ er mich und ich fiel in ein dunkles Loch, von dem ich dachte, für immer darin gefangen zu bleiben."

Wie kann man einem Menschen nur so viel Leid zufügen? Wie soll ein einzelner Mensch das ertragen? So grausam war die Welt also tatsächlich, so verdorben die Menschheit. In diesem Augenblick schämte ich mich dafür ein Mensch zu sein.

„Dies war der Augenblick, wo ich beschlossen hatte, dem gewöhnlichen Leben und der Menschheit als Ganzem den Rücken zu kehren und einen Neuanfang zu wagen. Und ich habe es nie bereut."

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