38. Ein Kreisel ohne Ziel

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Ich nahm den Lärm des Flughafens überhaupt nicht mehr wahr, die Geräusche schwollen zu einem ohrenbetäubenden Rauschen an, alles um mich herum war verschwommen. 

Ich sah nur ihn an. 

Das Karussell in meinem Kopf begann sich in schwindelerregender Geschwindigkeit zu drehen, immer schneller wirbelte es herum. Wie ein Kreisel rotierten meine Gedanken, ohne ein Ziel zu finden. Nein, es musste eine Illusion sein, er konnte unmöglich wieder zurück sein.

Ich vernahm ein leises „Holy Holly!" von Liz, doch ich beachtete sie nicht. Ich starrte geradewegs in seine blauen Augen. Er war braungebrannt, hatte eindeutig an Muskelmasse zugelegt und seine blonden Haare waren um einiges länger geworden.

„Was machst du hier?" Die Worte kamen nur stockend über meine Lippen. Es fühlte sich so unwirklich an, so surreal.

Vorsichtig lächelte er mich an, beinahe schon ängstlich. Für ihn war die Situation wahrscheinlich nicht weniger komisch. Endlich hatten wir einander wieder. Endlich war Alex wieder da.

Wieso genau jetzt? Ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt, dass er heute nach London zurückfliegen würde, niemals hätte ich gedacht, dass unser erstes Treffen so verlaufen würde. Ich sollte mich freuen, über das ganze Gesicht strahlen und ihm in die Arme springen, als lebender Wasserspender bestenfalls in Tränen ausbrechen, doch ich stand nur wie angewurzelt da. Es musste ein Traum sein, einfach nur ein Traum.

„Lottie, wer ist das?" Nialls Stimme riss mich aus meiner Trance. Ich sah, wie Liz Holly etwas ins Ohr flüsterte und spürte Nialls verwirrten Blick auf mir, doch es fühlte sich an, als hätte mir jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen. 

Es war so viel Zeit vergangen, es war so viel passiert...

„Ich bin Alex, Lotties Freund. Und du?" Misstrauisch musterte er Niall, dann trat er an meine Seite und legte seinen Arm um meine Taille. Fast unmerklich zuckte ich zusammen. Es fühlte sich so seltsam an, bei ihm zu sein. Ihn in meiner Nähe zu haben, obwohl ich mir wochenlang nichts anderes gewünscht hatte. Ich hatte jeden Tag gezählt, mich ständig nach ihm gesehnt und doch war er mir so fremd.

Besitzergreifend stellte er sich neben mich, doch seine Berührung löste nicht dieses aufregende wunderbare Kribbeln aus. Er wollte Niall wissen lassen, wo seine Grenzen waren, das war mir klar, doch es fühlte sich trotzdem merkwürdig an. Ich wollte nicht, dass es mich so anfasste, ich wollte nicht, dass er mich so einnahm. Als wäre er ein Hund und ich das Revier, das er markieren musste.

Es war so anders, wenn mich Niall berührte. Er wollte meine Nähe spüren, wissen, dass ich da war. Immer öfter war mir das geleerte Glas aufgefallen, die geöffnete Schnapsflasche und der leicht nach Alkohol riechende Atem. Ich wusste nicht, was in Niall vorging, doch ich wollte für ihn da sein, genauso wie er es für mich war - wir brauchten beide Halt. Wir brauchten einander.

Erschrocken über meine Gedanken schüttelte ich den Kopf, als könnte ich sie dadurch wie eine lästige Fliege loswerden. Was wollte ich mir einreden? Ich gehörte an Alex Seite, das war schon seit zwei Jahren so. Nichts sollte das ändern... oder?

Nialls Augen weiteten sich leicht, irritiert sah er Alex an, dann traf sein Blick meinen. Ich suchte das Funkeln in seinen blauen Augen, wollte die Magie wiederfinden, die er in den letzten Tagen ausgestrahlt hatte, doch da war nichts, kein Funkeln und Leuchten, nur ein eiskaltes Blau. Ich versuchte den Kloß in meinem Hals zu schlucken, doch er blieb hartnäckig da. Ich wollte ihm alles erklären, sagen, dass es nicht wahr war, doch war es das nicht? Die reine Wahrheit?

Urplötzlich verhärtete sich Nialls Miene.

„Ich bin niemand", murmelte er dann und stellte mir meinen Koffer vor die Füße. „Ich schätze den nimmt dir Alex ab. Bye, Lottie!"

Es schien als wollte er noch etwas sagen, doch dann schulterte er seinen Rucksack und wandte sich Richtung Ausgang, sein Bodyguard folgte ihm in einem sicheren Abstand.

Ich wollte seinen Namen rufen, wollte ihm erklären, dass er mir unglaublich wichtig war, doch ich blieb wie angewurzelt stehen. Mit rasendem Herzen sah ich ihm nach, so lange, bis er aus meiner Sichtweite war. Dann war er weg.

„Komischer Kerl!", hörte ich Alex murmeln, dann zog er mich an sich. Noch immer sah ich in die Richtung, in die Niall verschwunden war. Irgendwie hoffte ich, dass er zurückkehren würde, doch sein brauner Schopf tauchte nicht wieder auf.

„Ich wusste gar nicht, dass du heute nach London kommst! Ich hab dich so vermisst, Babe. Bekomme ich einen Kuss?" Alex grinste mich an, dann presste er seine Lippen auf meine. Sofort spannte ich meinen ganzen Körper an. Ich fühlte mich auf eine schreckliche Art und Weise an den Vorfall von letzter Woche erinnert, ich wollte ihn nicht küssen, wollte nicht, dass er mich so berührte. Instinktiv legte ich meine Hände auf seine Brust, ich wollte ihn von mir schubsen und mich von seinem klammernden Griff befreien. Seine Lippen fühlten sich nicht weich oder zärtlich an, beinahe gewaltsam drückte er seinen Mund auf meinen.

„Woah, Blondie, lass sie mal atmen! Du schlabberst sie ab wie ein Labrador sein Herrchen!" Holly schien den Schock als erste verdaut zu haben. Besorgt legte sie ihren Arm um mich und endlich löste sich Alex von mir. 

Beunruhigt sah sie mich an, als ich mir keuchend den Mund mit dem Handrücken abwischte. Schlagartig wurde mir bewusst was ich eben getan hatte, Alex sah mich entgeistert an. „Hustenanfall!", rief ich schnell und versuchte meine dumme Geste zu überspielen, doch richtig gelingen wollte es mir nicht.

„Okay, ich lass dich wohl besser erst mal richtig ankommen. Sehen wir uns später bei dir? Kann ich vorbeikommen?" Fast unmerklich nickte ich, verwirrt sah ich ihn an. Was war mit mir los? Wieso verhielt ich mich so seltsam? Ich liebte Alex, das war seit zwei Jahren so. Und jetzt ist es eben anders!

Mürrisch verdrängte ich die feixend singende Stimme in meinem Kopf. Ich wollte nicht eines Besseren belehrt werden, Alex hatte mich einfach überrascht. Wir mussten uns als Team erst wieder einspielen, alles würde wieder gut werden.

„Bis später, ich freu mich!", raunte er mir ins Ohr, dann verschwand er Richtung U-Bahn. Fassungslos sah ich ihm nach. Ich konnte nicht glauben, dass ich Alex endlich wieder gesehen hatte, nach so langer Zeit. Nach vier unendlich langen Monaten.

„Lottie, ich will ja nichts sagen, aber du siehst so aus, als müsstest du uns einiges erzählen!"

Liz sah mich fragend an, Holly blickte Alex immer noch mit gerunzelter Stirn nach. „Das ist also Mister Ichbindiestrahlendesonnehöchstpersönlich. Weißt du was ich vom ihm halte? Abstand."

Liz knuffte Holly mahnend in die Seite und sie hob schuldbewusst die Schultern, dann legte sie ihren Arm um mich. „Im Ernst, Lottie. Ich glaube, du bist uns eine Erklärung schuldig!" Mit diesen Worte drückte sie mir einen Schmatzer auf die Wange und schnappte sich meinen Koffer, Holly hakte sich bei mir ein. Ich senkte meinen Blick und folgte ihnen nach draußen. 

Ich brauchte doch erst mal selbst eine Erklärung. 

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