6. Kapitel

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Nervös lief ich vor dem Eingang des großen Gebäudes auf und ab. In weniger als zwei Stunden würden Harry und ich uns das erste Mal in der Öffentlichkeit als Paar präsentieren. Natürlich hatte es das Management geschickt eingefädelt – zunächst sollten wir uns nur zusammen sehen lassen. Keine Indizien geben, dass wir tatsächlich ein Paar waren. „Dadurch beginnt die Gerüchteküche zu brodeln!", hatte Jeff augenzwinkernd gesagt. 

Seufzend trat ich in das Gebäude ein. Dieses Mal war ich klüger als vor ein paar Tagen und hatte mir den Plan des Gebäudes schon im Vorhinein angesehen, sodass ich sofort wusste, wohin ich musste. Holly... Angeblich sollte sie mich für heute kleiden, schminken und frisieren - das volle Programm. Alles sollte perfekt sein, ich durfte nicht ein einziges Makel haben. Aufgeregt hielt ich nach der Raumnummer 23b im Sektor a Ausschau. 21... 22... 23... da war der Raum. Ich legte meine Hand auf die Klinke und wollte klopfen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Meine letzte Chance, einen Rückzieher zu machen. Noch war es nicht zu spät.

Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen und ein Mädchen öffnete schwungvoll die Tür. Himmel, in diesem Haus wurden mir alle Türen geöffnet – im wahrsten Sinne des Wortes. 

Ihre knallblau gefärbten Haare waren in einem zerzausten Dutt nach oben gesteckt, sie trug einen knallbunten Cardigan und mein Blick fiel sofort auf ihre Ohrringe: überdimensionale Karotten schmückten ihre Ohren. 

„Oh, du bist schon da!", rief sie überrascht und blickte mit einem Stirnrunzeln auf ihre Armbanduhr. „Du bist doch Lottie, oder?", hackte sie nach und musterte mich von Kopf bis Fuß. Verlegen nickte ich. „Wunderbar", murmelte sie und zog mich an der Hand nach drinnen. Prüfend nahm sie eine meiner Haarsträhnen in die Hand. „Gefärbt? Haarverlängerung?", fragte sie mich. „Ähm... nein!", antwortete ich ihr nervös. An prüfende Blicke würde ich mich ab jetzt gewöhnen müssen. „Wunderbar!", wiederholte sie und grinste mich an. „Setz dich am besten an den Spiegel, dann werden wir loslegen!" 

Ich befolgte Hollys Anweisung und setzte mich an den großen Spiegel. Nur wenige Augenblicke später stand sie hinter mir. „Nur keine Angst, Lottie! Bei dir müssen wir nicht viel machen!", sagte sie und zwinkerte mir zu. „Wow – diese Haare!" Schwärmend strich sie mir durch meine braunen Locken und ich lächelte verlegen. „Speicher am besten meine Nummer ein", meinte sie und streckte mir ihr Handy hin, damit ich die Nummer abtippen konnte. „Wann auch immer du eine Stylistin brauchst – ich bin da. Ruf mich an und ich werde mit einer Tasche voller Klamotten, Haarsprays und lauter Schnickschnack auftauchen, egal wo du auch sein magst!", sagte sie verschwörerisch. 

Überrascht schaute ich sie an. Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet! „Das ist toll, danke!", rief ich überrascht und lächelte sie dankbar an. Ab jetzt hatte ich also meine persönliche Stylistin. Ich konnte es immer noch nicht glauben – ich fühlte mich, als wäre ich in einer großen, rosaroten Blase, die jede Sekunde zerplatzen könnte. „Augen zu!", befahl mir Holly, machte sich an die Arbeit und begann mich zu schminken. Ich war eigentlich kein großer Fan von Schminke, die Zeit am Morgen verbrachte ich lieber in meinem warmen, kuscheligen Bett als vor dem Spiegel, doch Holly schien zu wissen, was sie tat. 

Sie war etwa gleich alt wie ich und ein richtiger Wirbelwind: sie wirkte als hätte sie einige Tassen Kaffee zu viel getrunken und verbreitete mit ihrer quirligen Art im ganzen Raum gute Laune. Prüfend klemmte sie sich einen Lidschattenpinsel zwischen die Zähne und trat einen Schritt zurück, um mich aus einiger Entfernung zu begutachten. Scheinbar war sie zufrieden mit ihrem Werk, denn sie legte den Pinsel zurück zu den anderen an den Tisch. „Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich gefreut habe, als sie mir gesagt haben, dass ich dich stylen darf!", sagte sie aufgeregt, während sie sich an meinen Haaren zu schaffen machte. „Nichts für ungut – aber ich liebe es, Mädchen zu stylen!"

„Wer ist denn noch unter deiner Fittiche?", fragte ich lächelnd und sah sie neugierig an. „Oh, ich habe Lou manchmal mit den fünf Jungs geholfen – naja, vier Jungs", verbesserte sich Holly. Sie hatte also tatsächlich alle Mitglieder der Band kennengelernt und mit ihnen gearbeitet. Ich musste kurz grinsen, als ich mir vorstellte, wie viele Mädchen sie um diesen Job beneideten. Holly kannte also auch meinen „neuen Freund".

 Ich wusste nicht wirklich, was ich von ihm halten sollte. Er wirkte nicht abgehoben oder arrogant, wie ich es befürchtet hatte, sondern unglaublich bodenständig und freundlich. Allerdings schien er wortkarg und verschlossen zu sein, so als hätte er eine dicke Mauer aus Beton und Ziegelsteinen um sich gebaut. Doch wer konnte es ihm verübeln... Jeder wollte Einblicke in sein Leben haben, jeder Schritt von ihm wurde in der Regenbogenpresse kommentiert und beurteilt. Und nun mischte sich auch noch das Management in sein Privatleben ein – genauso wie ich.

„Und vorher habe ich einige Male in L.A. gearbeitet. Du bist jetzt meine erste richtige weibliche Kundin, die ich ganz alleine betreuen darf!", fuhr Holly stolz fort, nachdem sie einige wichtige Namen der Branche aufgezählt hatte und drehte mich zurück zum Spiegel. Mir stockte der Atem - Holly hatte mich nicht nur geschminkt, sie hatte gezaubert. 

Natürlich wurde ich am Set immer wieder von professionell ausgebildeten Leuten geschminkt, doch bisher hatte noch niemand ein solches Wunder bewirkt. 

„Holly, du... du bist der Wahnsinn!", stotterte ich und starrte mich im Spiegel an. „Quatsch, das war doch nichts...", murmelte sie und wandte sich verlegen ab, als ihr die Röte ins Gesicht schoss, doch ich merkte, wie stolz sie auf sich und ihr Kunstwerk war. „Doch, du bist toll, Holly! Danke!", meinte ich und stand kurzerhand auf, um sie in eine Umarmung zu schließen. Ich fühlte mich bei ihr in guten Händen – es hatte nicht mal fünf Minuten gedauert und sie hatte etwas geschafft, was ich in 24 Jahren noch nicht geschafft hatte: mich allein durch Schminke richtig hübsch aussehen zu lassen.
Es hatte nicht fünf Minuten gedauert und schon hatte ich sie lieb gewonnen. Sie wirkte so lebensfroh, vertrauenswürdig, einfach glücklich. Holly war jemand Besonderes, das wusste ich jetzt schon.

„Na los, suchen wir was Passendes zum Anziehen", forderte sie mich mit knallroten Wangen auf und lotste mich zum riesigen Kleiderschrank am anderen Ende des Raums.

Ich schloss Holly direkt in mein Herz und auch wenn ich sie kaum kannte – ich wusste, dass ich mich nicht nur bei meinem Äußeren auf sie verlassen konnte. 

CluelessWhere stories live. Discover now