22. Die Stadt der Engel

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„Ein bisschen Puder... und Mascara... fertig!" Triumphierend drehte mich Holly zum Spiegel, damit ich mich begutachten konnte. Es war erst acht Uhr morgens, doch dank der Zeitumstellung war ich fit wie ein Turnschuh.

Zuhause war es gerade später Nachmittag und ich hatte die halbe Nacht meinen Text gelernt. Immerhin der Text saß, den Rest meiner Gedanken verdrängte ich erfolgreich in meinen Hinterkopf. Einer der wichtigsten Tage meines Lebens stand an, ich durfte nicht den Kopf hängen lassen.

Holly wirkte wie immer Wunder: meine Augenringe waren nicht mehr zu sehen, meinen hübschen Freund am Kinn hatte sie auch abgedeckt und meine vom Weinen verquollenen Augen sahen ganz normal aus. Ich hatte Holly im Flugzeug alles bis aufs kleinste Detail erzählt, nicht mal die blöde Joana oder Joelle oder wie sie alle hießen ließ ich aus.

„Perfekt!", lobte sie sich selbst und zwinkerte mir zu. „Du rockst das heute, auf geht's! Angle dir deinen Fernsehauftritt!" Lächelnd schlüpfte ich in die Sneaker. Wie immer hatte Holly eine halbe Ewigkeit dafür gebraucht, sich zwischen zwei Paar Schuhen zu entscheiden.

Schnell schnappte ich mir die Zimmerschlüssel von der Kommode - ich vertraute nicht darauf, dass Holly sich nicht aussperren würde, doch dann hielt ich inne.

Ich hatte das Angebot nur erhalten, weil ich mit Harry ausgegangen war. Ich war nur das Mädchen an Harry Styles Seite und erhielt deshalb die Casting-Einladungen. Es war genau das, was ich mit der Aktion erreichen wollte, aber ich wollte es auf die ehrliche Weise schaffen, nicht durch Betrug. Mein Talent sollte mich weiter bringen, nicht Harry.

„Was ist los, Bambi? Wieso guckst du so traurig?", fragte mich Holly, während sie ihre Pinsel verstaute. „Es ist nicht richtig. Ich wollte es alleine schaffen!", murmelte ich monoton. Doch ich hatte es nicht alleine geschafft, es war nur wegen Harry gelungen.

„Jetzt hör mal zu, du Stimmungsbombe! Mit deiner Laune könnte man einen ganzen Club ausstatten! Ja, das Treffen mit Harry hat dir zur Einladung verholfen. Nein, hör mir zu!", ermahnte sie mich, als ich sie unterbrechen wollte und packte mich an den Handgelenken. Ich war ein kleines Stück größer als sie, doch in diesem Moment fühlte ich mich unfassbar klein.

„Du hast die Einladung, aber nicht die Zusage. Es liegt jetzt allein an dir, an deinem Talent, deinem Charme und deiner Überzeugungskraft. Und kein Harry Styles der ganzen Welt könnte Ridley Forster davon überzeugen, dich auszuwählen, wenn du nicht genau seinen Vorstellungen entsprechen würdest. Hey - wir sprechen von Ridley Forster! Jetzt bist du auf dich allein gestellt, nicht mal Dates mit Harry Styles, Stevie Wonder und Michael Jackson gleichzeitig würden dir bei ihm weiterhelfen. Also vertrau auf dich und deine Begabung, das ist doch deine Leidenschaft! Dein Herz schlägt dafür, du liebst es! Du bekommst die Rolle, weil du es liebst und es kannst, kein Star der Welt würde das ändern! Und jetzt geh, sei einfach wunderbar und mach mich stolz, Bambi!"

Mit diesen Worten drückte sie mir einen Schmatzer auf die Wange und scheuchte mich zum Aufzug. Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht ließ sich Ridley Forster doch nicht von meinem Liebesleben beeinflussen.

Ich wartete nur einige Minuten, dann hielt ein Taxi und ich nannte dem Fahrer die Adresse. Das Skript hielt ich fest in meiner Hand, jetzt gab es kein Zurück mehr. Meine Knöchel traten weiß hervor, Adrenalin schoss durch meine Adern. Es war so weit.

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„Psst - ist sie das?"
„Gut möglich... sie sah auf den Fotos hübscher aus"
„Sie ist so klein!"
„Ich finde sie wunderschön... schau mal ihre Bombenfigur an!"
„Bist du jetzt total übergeschnappt?"

Verlegen strich ich mir meine Haare aus der Stirn und starrte auf das Skript. Den Text konnte ich mittlerweile in- und auswendig, doch meine Nervosität stieg von Minute zu Minute. Ich hörte die drei Mädchen mit ihrem amerikanischen Akzent leise miteinander tuscheln, immer wieder blickten sie zu mir. Es war keine Kunst, herauszufinden, über wen sie sprachen: über niemand geringeren als Harry Styles neue Flamme.

Mit einem höflichen Lächeln hatte ich sie begrüßt, doch keine von ihnen schien Interesse zu haben, mit mir in ein Gespräch verwickelt zu werden. Wäre Holly bloß mitgekommen! Sie hätte bestimmt keine Scheu einfach drauflos zu plaudern.

Eine junge Frau mit kirschroten Lippen stöckelte auf uns zu. Wir waren nur zu viert - wahrscheinlich waren wir bereits die engere Auswahl des Regisseurs und jetzt wollte er sich ein genaueres Bild von und machen und uns persönlich kennen lernen. „Claire Wood? Folgen Sie mir!" Eben genannte warf den anderen beiden einen Kuss zu, dann lief sie hüftschwingend hinter der jungen Frau her. Na toll, wie sollte ich jemals mit einer derartigen Schönheit mithalten können?

„Hey du, Kleine!" Mein Blick schnellte nach oben. Meinte sie etwa mich? Eines der zwei verbliebenen Mädchen kam langsam auf mich zu. Schnell erhob ich mich - ich wollte dem Mädchen auf Augenhöhe begegnen, ich wollte nicht auf sie aufsehen wie ein kleiner Hund mit Schlappohren. „Ja?", antwortete ich schüchtern. Toll - spätestens wenn ich an der Reihe war, musste ich die Schüchternheit ablegen. Keiner wollte schüchterne Schauspieler, die nicht über ihren Schatten springen konnten.

„Du magst in London einen gewissen... naja, einen gewissen Erfolg haben, doch ich will dich nur eines wissen lassen: das hier ist unser Territorium. Wir haben etliche Vorrunden hinter uns, nicht jeder hat bestimmte Privilegien, so wie du. Also verzieh dich und schmeiß dich von mir aus an jeden Sänger ran! Das ist unsere große Chance, endlich Ridley Forster zu überzeugen und du kommst mir dabei nicht in die Quere, habe ich mich klar genug ausgedrückt?".

So lief das also. Anscheinend hatte es schon einige Castings für die Rolle geben und es handelte sich hier um die finale Runde. Ich konnte mein Herz bis zum Hals pochen spüren, meine Hände wurden fleckig. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen und meine Selbstzweifel bestärkt. Natürlich hatte Amanda meine Videos als Bewerbung beschickt, doch der Rest hatte sich durch Harry ergeben... und das nagte gewaltig an mir. Ich hatte genau gewusst, was passieren würde, wenn ich mich auf die Lüge einlassen würde, doch ich musste erst lernen, damit umzugehen. Wahrscheinlich würde ich es nie lernen.

Lottie Williams würde niemals gut genug sein.

„Ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt!" Sie trat mir gefährlich nahe, ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Wieso musste ich auch so verdammt schüchtern sein! Und wieso musste sie genau das aussprechen, was mir die ganze Zeit im Kopf herumspukte? Schnell räusperte ich mich, während ich spürte, wie mir die Röte langsam, aber sicher ins Gesicht kroch. Sie hatte verdammt nochmal Recht. Ohne Harry wäre gar nicht hier. Ohne ihn war ich ein niemand.

Und dann ploppte plötzlich das bunte, blauhaarige Mädchen vor meinen Augen auf und meine Zunge verselbstständigte sich.

„Ähm... ich weiß nicht wie du heißt oder wer du bist, denn du hast bisher freundlicherweise jeglichen Kontakt zu mir gemieden. Doch wir sind alle hier, um Ridley Forster zu überzeugen, nicht wahr? Du, ich, deine Freundin Claire... Für uns alle ist es ein großer Traum, der hier in Erfüllung gehen kann. Wir sind Konkurrentinnen - schon klar. Aber findest du es nicht auch lächerlich zu glauben, dass Ridley Forster sich von etwas anderem beeindrucken lässt als von unserem Talent? Eine von uns wird heute wahrscheinlich die Rolle ihres Lebens ergattern und weißt du was? Ich würde mich für dich freuen, ehrlich. Doch bis dahin werde ich mein Bestes geben und wenn es nicht klappt, hat es vermutlich nicht gereicht. Aber ich werde da jetzt reingehen, meinen Text aufsagen und versuchen Ridley Forster von mir zu überzeugen. Und jetzt lass mich bitte vorbei!"

Mi offenem Mund starrte mich die Brünette an, doch ich hielt ihrem wütenden Blick mit funkelnden Augen stand. „Lottie Williams!" Ich schob mich an ihr vorbei, dann klappte mir der Mund auf. Ich hatte ihr eben tatsächlich eine Ansage gemacht, eine richtige Ansage.

Ich sah Holly grinsendes Gesicht vor mir und konnte regelrecht spüren, wie sie mir stolz auf die Schulter klopfte. Sie schien eindeutig auf mich abzufärben, denn Lottie Williams aus London hätte nur kleinlaut genickt. Doch gerade eben war ich nicht das schüchterne Mädchen gewesen, es hatte definitiv der kleine blauhaarige Teufel durch mich gesprochen.

Lächelnd betrat ich hinter der jungen Empfangsdame den großen Raum.

„Lottie Williams. Interessant!"

CluelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt