36. Herzrasen und Brokkoli

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Niall ließ mich keine Sekunde aus den Augen, er achtete immer darauf, dass es mir gut ging, sei es seelisch oder physisch. Die ganze Zeit hatte er mich in seinen Armen festgehalten, irgendwann musste ich eingeschlafen sein. 

Ich wollte nicht auf jemand anderen angewiesen sein, doch ich brauchte ihn momentan mehr als jeden anderen. Er gab mir das Gefühl der Sicherheit. Ich war gerade an dem einzigen Ort der Welt, an dem ich mich sicher fühlte: bei Niall.

Mein Blick fiel auf die fast leere Whiskeyflasche auf dem Wohnzimmertisch. Es war bestimmt nicht die erste, die Niall alleine leerte. Obwohl es im Zimmer wohlig warm war, fröstelte ich plötzlich und instinktiv kuschelte ich mich in seinen großen Pulli, den er mir gegeben hatte.

„Lottie? Können wir kurz reden?" Seine Stimme ertönte hinter mir und ich wirbelte erschrocken herum. Niall lehnte am Türrahmen und musterte mich. 

Ich konnte dem Gespräch nicht ausweichen, das war mir klar, doch am liebsten würde ich die Erinnerungen an gestern Nacht mit einem dicken, schwarzen Edding übermalen.

„Hör zu... das gestern war ein blöder Ausrutscher, das passiert nicht noch einmal. Wir sind einfach gute Freunde, die nicht nachgedacht haben, oder?", fragte er mich vorsichtig. Schnell nickte ich. Scheinbar wollte er die Sache genau wie ich verdrängen und sie aus der Welt schaffen – es war einfach falsch gewesen. Ich empfand nichts für ihm und er genauso wenig für mich, die Situation hatte uns dazu verleitet.

„Wir sind nur Freunde!", bestätigte ich und zwang mich zu einem Grinsen. Langsam kam Niall auf mich zu und stellte sich neben mir ans Fenster. Besorgt musterte er mich und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Sofort begann die Stelle, an der er mich berührt hatte, zu kribbeln, Gänsehaut kroch über meinen Rücken. Was war nur los mit mir? Er hatte mir ein paar Mal geholfen, das war kein Grund verrückt zu werden!

„Willst du mir erzählen, was passiert ist?" Zögernd sah ich ihn an. Ich konnte ihm vertrauen, davon war ich überzeugt. Niall würde mich nicht verurteilen...

Die Worte kamen nur stockend über meine Lippen. Die Erinnerungen an gestern Nacht kamen schmerzhaft hoch, immer deutlicher erschienen die Bilder vor meinen Augen. Ihre Pranken, die sie auf meine Hüften legten, ihre ekelhaften Münder, die sich meinem gefährlich näherten.

Schweigend saß Niall neben mir und hörte mir zu. Er wartete geduldig, bis ich mich wieder gefangen hatte und hörte mir einfach nur zu, doch sein Blick wurde mit jedem Wort, das ich sagte, wütender.

„Sind die wahnsinnig? Lottie, du musst die Typen anzeigen! Ich will mir gar nicht vorstellen, was passieren hätte können! Das ist einfach nur... abartig!" Nialls Stimme wurde immer lauter, wütend sprang er auf und raufte sich die Haare.

„Sag es niemandem, okay?" Beinahe flehend sah ich ihn an. Ich wollte nicht das Mädchen sein, das angegriffen wurde, ich wollte nicht der Schwächling sein. Das leichte Opfer.

„Lottie, du musst doch-", begann er, doch ich unterbrach ihn scharf. „Nein, Niall. Ich... ich kann das nicht. Bitte, ich muss dir vertrauen können. Versprich mir das!"

Zweifelnd sah er mich mit seinen blauen Augen an. Und zum ersten Mal seit Langem begann mein Herz nicht aus Angst zu rasen.

Dreimal hatte er mich gefragt, ob ich gestern irgendwie von den beiden Männern verletzt wurde, doch abgesehen von den leichten Blutergüssen an meinen Handgelenken war nichts zu sehen. Nur in meinem Inneren klaffte eine tiefe Wunde.

Mit kleinen Schritten tapste ich ins Bad. Niall hatte bestimmt nicht geplant, den ganzen Tag Zuhause zu bleiben, doch er hielt sich immer in meiner Nähe auf. Als würde er genau wissen, wie es in mir aussah. Frustriert sah ich mein Spiegelbild an. Da war ich – das kleine, dumme wehrlose Mädchen. 

CluelessWhere stories live. Discover now