34. Whiskey

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Nachdenklich blickte ich in das Glas voller Whiskey. Kleine Regentropfen prasselten auf das Fenster, durch die geöffnete Balkontür drang frische Luft in mein Appartement. In wenigen Tagen würde ich zurück nach London fliegen, ich hatte heute einige Songs im Studio aufgenommen, doch richtig zufrieden war ich noch nicht. 

Die Melodie war schön, die Harmonien passten perfekt, doch es fehlte die Magie. Die Magie eines Lieds, das den Zuhörer zum Träumen bringt.

Es war nicht mein erstes Glas Whiskey an diesem Abend, doch mittlerweile war mein Körper den regelmäßigen Alkoholkonsum gewöhnt. Kaum ein Tag verging, an dem ich den Abend nicht mit irgendeinem süffigen Getränk verbrachte. 

Mein Körper war kaputt, ich war kaputt, doch die Fassade blieb stehen. Ich war der lachende junge Mann mit dem irischen Akzent.

Gelangweilt zappte ich durch die Kanäle, doch ich sah nicht richtig hin. Immer wieder füllte ich das Glas auf und stierte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit. Ich hatte alles geschafft, was ich mir jemals erträumt hatte und wer war ich jetzt? Ein gebrochener Mann. Ob ich glücklich war? Ich sollte es besser sein.

Ein lautes Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt sah ich auf meine Armbanduhr – es war bald Mitternacht. Wer in aller Welt wollte um diese Uhrzeit etwas von mir? Ich seufzte leise auf und ließ mich wieder auf das Sofa nieder. Wer auch immer es war – er sollte weggehen. Ich hatte weder Lust auf ein Gespräch noch auf sonst etwas.

Kurz schweiften meine Gedanken zu Caroline, die mir gelegentlich die Nächte versüßte, doch auch sie würde meine Stimmung nicht heben können. Es war merkwürdig – ich hatte mehr Freunde als je zuvor und doch fühlte ich mich einsamer denn je.

Ein weiteres Klingeln durchbrach die nächtliche Ruhe - mein unwillkommener Besucher schien hartnäckig zu sein. Seufzend erhob ich mich und bewegte mich zur Tür. Ich würde dem Störenfried einfach sagen, dass ich zu tun hatte, sonst würde ich niemals meine Ruhe haben. Mit einem Ruck öffnete ich die Tür.

Bibbernd vor Kälte, klatschnass und weinend stand sie vor meiner Tür. Sie trug nur eine Jeansjacke, sie musste bis auf die Knochen durchnässt sein! Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich sie an – ich hatte mit jedem gerechnet, nur nicht mit ihr.

„Niall? Hast du Zeit?"

Erstaunt sah ich sie an, dann reagierte ich blitzschnell und zog sie über die Türschwelle. „Was machst du hier? Komm her, du musst raus aus den Klamotten, du holst dir den Tod!" Ich verschwand im Badezimmer, um ein Handtuch zu holen, doch als ich zurückkehrte, stand sie genau wie vorhin in meinem Flur. Ihr ganzer Körper zitterte, sie hatte sich keinen Millimeter bewegt, eine kleine Pfütze bildete sich um ihre Schuhe.

„Komm schon, Lottie! Ich meins ernst!" Mühsam zog ich ihr die durchnässte Jeansjacke aus und legte das Handtuch um sie, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Wieso war sie überhaupt in L.A.? Ich hatte nicht gedacht, sie so schnell wiederzusehen.

„Was ist passiert?" Vorsichtig schüttelte ich sie. Wieso tauchte sie mitten in der Nacht heulend vor meinem Appartement auf? Was in aller Welt war los?

Endlich regte sie sich und hob ihren Blick. Und was ich sah, tat mehr weh als alles andere. Sie sah so verletzt aus, enttäuscht, so zerbrochen. Es brach mir das Herz, sie so zu sehen. Sie war ein so toller Mensch, war so liebenswürdig – wer in aller Welt hatte ihr etwas angetan?

„Lottie!" Nur ein Flüstern kam über meine Lippen, sanft nahm ich ihr Gesicht in meine Hände. Ihr kleines, liebenswertes Gesicht. Stumme Tränen strömten über ihre Wangen, ihre Unterlippe bebte, die klatschnassen Haare klebten in ihrem Gesicht.

„Alles ist gut, shh! Ich bin ja da!" Ohne Zögern schloss ich sie in meine Arme, das Mädchen, das wie Espenlaub zitterte. Sie war so zierlich, wirkte so zerbrechlich. „Ich bin ja da!" Mein Shirt war in Sekunden durchnässt, doch das war egal. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und schluchzte in den Stoff. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, regte sie sich und schlang ihre Arme um mich.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden, doch ich hielt sie fest. Egal, was passiert war, ich wollte für sie da sein.

Ich wollte es nie mehr loslassen, das kleine Mädchen in meinen Armen.

„Oh Gott, Niall, es tut mir so leid, ich wusste nicht weiter... ich... nein, ich geh jetzt wieder, tut mir leid, dass ich dich gestört habe, ich wollte dir nicht den Abend ruinieren, ich-"

Stammelnd löste sie sich von mir und wischte sich die Tränen von den Wangen. Verwirrt sah sie sich um und drehte sich zur Tür.

„Bist du verrückt? Lottie, du kannst hier nicht klatschnass und weinend auftauchen und gleich wieder verschwinden, ohne mir irgendetwas zu erklären!" Verzweifelt sah ich sie an. Wenn ich nur wüsste, was gerade eben in ihrem Kopf vorging... ich kannte Lottie nicht gut, doch irgendetwas war heute geschehen. Etwas, das sie vollkommen aus der Bahn geworfen hatte.

„Lottie, du kannst mit mir reden. Vertrau mir!"

Zögernd sah sie auf meine Hand, die ich ihr entgegenhielt. Mit ihren großen, rehbraunen Augen sah sie mich schüchtern an. Dann, fast unmerklich, nickte sie und ergriff sie.

Dick eingemummelt in eine Decke und einer Tasse Tee in der Hand saß sie auf meiner Couch. Ich hatte sie dazu gezwungen, heiß zu duschen und ihre nasse Kleidung gegen eine Jogginghose und einen meiner Pullis einzutauschen. 

Wortlos war sie meinen Anweisungen gefolgt. Nachdenklich betrachtete ich sie, während ich ihre Kleidung zum Trocknen aufhängte. Was war geschehen? Ihre Finger klammerten sich um die Tasse mit dem heißen Getränk, mit leerem Blick starrte sie auf den Boden. Sie sah schrecklich aus, bleich und verweint.

Vorsichtig ließ ich mich neben ihr nieder, woraufhin sie sofort erschrocken zusammenzuckte.

„Hör zu, Lottie. Du musst mir nichts sagen, es ist okay. Aber wenn du reden willst, dann bin ich für dich da!" Sanft streichelte ich über ihren Arm, doch sie reagierte nicht auf mich. Was war mit dem fröhlichen, lächelnden Mädchen passiert, mit dem ich auf Harry Konzert war?

Ich schnappte mir mein Whiskeyglas vom Tisch, noch immer war es gefüllt. Kurzerhand kippte ich das Getränk in den Abfluss. Ich musste nicht noch mehr Probleme schaffen, als es schon gab.

„Niall?" Ihre leise Stimme war kaum hörbar, verzweifelt sah sie mich an. Schon wieder schimmerten Tränen in ihren Augen.

„Kannst du mich einfach festhalten?"

Schnell lief ich zum Sofa und schlag meine Arme um ihren zierlichen Körper. Ich würde sie immer festhalten. Sofort schmiegte sie sich an mich und lehnte ihren Kopf an meine Schulter.

„Danke, Niall. Du bist schon wieder für mich da!" Ich verstärkte den Druck meiner Arme, ich wollte sie wissen lassen, dass sie sich auf mich verlassen konnte, dass ich immer für sie da sein würde, egal was passierte. Sie war mir in so kurzer Zeit wichtig geworden, auch wenn ich sie kaum kannte. Doch Lottie war jemand ganz besonderes. Jemand, auf den ich aufpassen musste.

Dann sah sie mir direkt in die Augen. Mein Herz setzte einen Augenblick aus und begann dann wie wild zu rasen. Da war sie, die Magie, die ich heute bei meinen Songs vermisst hatte.
Und dann, ganz zärtlich und leicht, schmiegten sich ihre weichen Lippen an meine. 

CluelessWhere stories live. Discover now