21. Himbeerschokolade und andere Sünden

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Nervös ging ich auf und ab, während ich die Anzeigetafel im Auge behielt. Holly schlummerte in ihrem knallgelben Anorak, die Kapuze hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen. Sie sah beinahe aus wie eine kleine Quietschente. 

Immer wieder blickte ich auf den Bildschirm meines Handys, doch er blieb schwarz. Alex meldete sich nicht, wieder mal. Wahrscheinlich lenkten ihn Maria, Joana oder die Heilige Antonia ab. Oder alle drei gleichzeitig! 

Seit gestern herrschte also wieder Funkstille. Ich wollte mich nicht bei ihm melden, dafür war ich viel zu stolz – und doch wünschte ich mir nichts mehr, als mit ihm zu reden. Doch ich hatte Angst vor dem Schmerz, der mich durchfahren würde, wenn ich seine vertraute Stimme hören würde. Es tat einfach höllisch weh! 

Am liebsten würde ich nicht in den Flieger nach L.A. einsteigen, sondern direkt nach Portugal fliegen, einfach drauflos. Ich wollte ihn zur Rede stellen, all meinen Gefühlen freien Lauf lassen und ihm am liebsten eine klatschen. Links und rechts. Und doch wollte ich nichts mehr, als in seiner Nähe zu sein.

Was hatte ich überhaupt in L.A. verloren? Der Regisseur war nur wegen einer Lüge auf mich aufmerksam geworden, ich fütterte die ganze Welt mit einer Lüge und sie stürzte sich wie ein hungriges Raubtier darauf. Ich war so erbärmlich, ich hasste den Gedanken daran. Was hatte ich nun davon? Einen Haufen Aufmerksamkeit und ein zerbrochenes Liebesleben. Sonst nichts.

Holly schreckte schnarchend hoch, als unser Flug angekündigt wurde. Wir flogen in einer kleinen Maschine, deshalb dürfte das Boarding nicht allzu lang dauern. Ich umklammerte das Skript, das ich seit Stunden versuchte, auswendig zu lernen, doch die Buchstaben verschwommen vor meinen Augen, immer wieder drifteten meine Gedanken woanders hin. Das Restaurant, in dem ich gestern mit Harry essen war, die Parkbank, auf der mich Liz wie ein Häufchen Elend aufgefunden hatte, Portugal...

„Wie spät ist es?", hörte ich Holly fragen, gefolgt von einem lauten Gähnen. „Kurz vor sieben", antwortete ich ihr knapp, während ich nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Ich war noch nie in L.A., doch ich hatte eine leise Ahnung, dass ich mich in die Stadt verlieben würde. 

Vielleicht tat es mir ganz gut, mal aus London zu kommen. Weg von dem Nebel, den dicken, grauen Regenwolken, die in der Luft hingen und weg von all meinen Problemen. Ich wollte nicht davonlaufen, doch ich wollte mich meinen Problemen genauso wenig stellen.

„Uff, ich hab geträumt, dass mich Jeff aufs Gröbste beleidigt hat, dieser Mr. Möchtegern-Grey!", schimpfte Holly und rieb sich die Augen. Ich musste mir ein kleines Grinsen verkneifen und kramte mein Ticket heraus, während Holly panisch begann in ihrer Handtasche zu wühlen und nach dem Ticket zu suchen, welches sie in der anderen Hand festhielt. Jetzt war ich überzeugt davon: der Trip würde mir mehr als nur gut tun.

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„Ich mag keine Flugzeuge!", stellte Holly fest und ließ sich auf einen der Sitze fallen. Lachend scheuchte ich sie wieder hoch und schob sie sanft zu unseren Plätzen. Das Flugzeug war kleiner als alle, mit denen ich bisher geflogen war. Der Fußraum bot viel mehr Platz als üblicherweise, die Flugbegleiter versorgten uns mit Zeitschriften und einem kleinen Snack – kurz gesagt: daran könnte ich mich gewöhnen. Wir würden die ganze Nacht durchfliegen, würden dann mitten in der Nacht in L.A. ankommen und noch ein wenig Schlaf abbekommen.

„Kann ich dich was fragen, Lottie?", murmelte Holly plötzlich neben mir. Auffordernd sah ich sie an. „Wieso warst du heute morgen so fertig? Ich weiß, dass es nicht nur am Schlafmangel liegt – ich weiß wie verheulte Augen aussehen." Das hatte gesessen. Ich starrte auf den Ring, den mir Alex geschenkt hatte. Egal, wie sehr er mich verletzt hatte, ich wollte ihn nicht ablegen. Er gehörte zu mir, genau wie Alex.

Weil mich mein Freund wieder mal für andere Mädchen versetzt hat. Deshalb hatte ich die halbe Nacht lang geweint. Das war die Antwort.

„Du musst es mir nicht sagen, ich dachte nur... vielleicht brauchst du jemanden zum Reden..."

„Nein, ist schon gut. Es ist zurzeit einfach ein bisschen schwierig... Ich- ich habe einen Freund!", platze es aus mir heraus. So – jetzt wusste sie es, als einer der wenigen Menschen. Es war eine Information, die nicht in falsche Hände geraten durfte, es würde meine und Harrys Karriere zerstören, wenn die Öffentlichkeit von der Lüge erfahren würde. Wir belogen die Menschen, die uns dabei unterstützten, unsere Träume zu verwirklichen. Sofort verstärkte sich mein schlechtes Gewissen. Es war einfach falsch!

Holly sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Ich weiß, meine Liebe. Harry!" Dann widmete sie sich wieder ihrer Schokolade.

„Nein... es ist nicht Harry... es ist... Alex"

„Wer zum Teufel ist Alex?" Genüsslich biss sie in die Schoko-Himbeer-Tafel, dann hielt sie mitten in der Bewegung inne, die angebissene Schokoladentafel schwebte vor ihrem Mund.

„Nein, mach mal halblang. WER ZUM TEUFEL IST ALEX?", zischte sie bemüht leise, damit uns die anderen Fluggäste nicht hören konnten.

Leise seufzte ich auf. Ich wusste selbst, wie bescheuert die Situation war, doch wenn ich sie jemandem erklärte, wurde mir mein Fehler auf einer schrecklichen Art und Weise bewusst.

„Alex und ich sind seit zwei Jahren ein Paar... und das sind wir immer noch. Glaube ich!", fügte ich kaum hörbar hinzu. Traurig senkte ich meinen Blick, ich wollte nicht in Hollys entgeisterte Augen sehen. „Das hört sich verrückt an und glaub mir: das ist es auch. Aber wir haben abgemacht, dass ich den Vertrag unterschreibe. Er hat mich beinahe dazu angestiftet! Und jetzt... jetzt ist er in Portugal und stiert anderen Mädels auf ihre Oberweite und begrabscht ihren Allerwertesten und-" Dann brach meine Stimme. Ohne es bemerkt zu haben, war ich immer lauter geworden, Tränen liefen über meine Wangen. So ein Vollpfosten!

„Lottchen, Lottchen, ich verstehe gar nichts mehr! Komm her, du brauchst ein Taschentuch. Und dann erzählst du mir jedes Detail in Ruhe, ich bin mit dieser Version der Geschichte total überfordert!"

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„Ist das die Neue von Harry Styles?"

„Das ist doch Lottie Williams!"

Ich hörte zwei Mädchen leise tuscheln, während ich mit Holly auf unsere Koffer wartete, doch ich ignorierte sie. Ich zog mir die Kapuze meines Hoodies tiefer ins Gesicht, der Rest wurde von meiner Sonnenbrille und meiner Löwenmähne verdeckt. Es war zwar mitten in der Nacht, doch wen scherte es, dass ich nachts im Flughafengebäude eine Sonnenbrille trug. Endlich erblickten wir unsere Koffer und ich hievte ihn vom Förderband. 

Holly hatte eine Menge Kleidung in den Koffer gepackt, meine persönlichen Sachen nahmen kaum Platz ein. Mit den Worten, dass sie stundenlang geplant hatte, wann ich was anziehen sollte, hatte sie einige meiner Lieblingskleiderstücke aus dem Koffer geworfen und Platz für ihre ausgewählten Klamotten geschaffen. Wortlos hatte ich ihr dabei zugeschaut und angesehen, wie meine Lieblingsjeans im hohen Bogen auf den großen Haufen neben meinem Bett fiel.

„Kann sie das sein?"
„Sie kommt doch aus London, oder?"
„Harry ist aber hier in L.A.!"
„Ich würde das so feiern, wenn sie zusammen wären!"
„Nooo, bist du verrückt? Larry forever!"

Holly gab ein leises Schnauben von sich und zerrte ihren Koffer Richtung Ausgang. Müde trottete ich ihr nach. In London wäre es jetzt Zeit für ein frühes Frühstück, hier war es beinahe Mitternacht. Holly schien zu wissen, wohin wir mussten, also folgte ich ihr, ohne auf den Weg zu achten. Ich war eindeutig zu müde, einen klaren Gedanken zu fassen. Los Angeles. Ich war wirklich da. In der Stadt, in der sich meine Träume erfüllen würden, in der Stadt, in der ich wachsen würde, in der Stadt, in der ich mich verlieben würde.

Kaum traten wir aus dem Flughafen, setzte sich Holly in ein Taxi. Dankbar lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter. Ich war froh, dass sie da war. Sie konnte Liz zwar nicht ersetzen, doch es fühlte sich gut an, mit ihr über alles zu reden. Sie war für mich da, das war alles, was zählte. 

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