Wandelnder Traum

By yazkalbim

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»Wenn du eine Lüge lebst, wirst du sie irgendwann so sehr verinnerlichen, dass sie zu deiner Wahrheit wird.«... More

Einleitung
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Abschluss
Wattys2020

Dreiundzwanzig

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By yazkalbim

R Ü Y A




Der Tag im Diner war die reinste Hölle. Sie hatte riesige Angst ausgestanden, ob sie nach dieser langen Fehlzeit den Job noch hatte. Sie brauchte ihn schließlich, doch nachdem sie die Lage geschildert hatte, hatte ihr Chef erstaunlicherweise nach einem kurzen Moment des Zögerns nachgegeben. Wahrscheinlich weil er es sich selbst nicht leisten konnte, neue Mitarbeiter zu suchen. Trotzdem war es total anstrengend. Freitags war immer am meisten los. Die Schüler aus der Nähe kamen oft nach Schulschluss zum Essen und waren wohl die schlimmsten Kunden, die es geben konnte. Unablässige Flirtversuche und manche Draufgänger, die meinten, die könnten sich die Freiheit herausnehmen jede Frau zu begrapschen, die ihnen Essen servierte. Dazwischen gab es auch die netten Schüler, die keinerlei Probleme machten. Sie waren Rüya die liebsten.
Später kam dann die Reihe der Arbeiter, die ihren Feierabend mit Essen und Bier feiern wollten. Die Gegend um das Diner war nicht gerade die beste, aber auch nicht die schlimmste. Während sie Müll von einem Tisch räumte, warf sie einen raschen Blick auf ihr Handy. Wahrscheinlich war es total lächerlich, aber sie wünschte sich, Azad würde ihr schreiben. Nachdem sie so lange Zeit zusammen gewesen waren, vermisste sie ihn nun und die Stunden, die sie getrennt von ihm verbrachte, kamen ihr endlos lang vor. Eine ihrer Kolleginnen stieß sie im Vorbeigehen mit der Hüfte an. Fast hätte Rüya das Tablett fallen gelassen und schaute fragend zu der lächelnden Marokkanerin. »Schön, dass du wieder da bist«, meinte sie. Im ersten Moment war Rüya ziemlich perplex, im zweiten schenkte sie ihr ein verhaltenes Lächeln. »Danke.«
Das Verhalten ihrer Kollegin war so ungewöhnlich. Normalerweise erledigte jeder einfach seinen Job und ging seinen Weg.
Sie war dabei einen Tisch zu bedienen, doch beide trafen sich hinten in der Küche wieder. Rüya warf erneut einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Handy, eine Minute später nachdem Azad ihr geschrieben hatte. Wie und wann kommst du nach Hause, sprang es ihr entgegen. »Diesen Ausdruck kenne ich«, erschreckte ihre Kollegin sie wieder. »Bei Gott!«, stieß Rüya aus und legte sich eine Hand aufs Herz. »Hör auf mich so zu erschrecken.«
Jasmina Mastouri machte eine schuldbewusste Miene. »Sorry.«
Sie antwortete Azad, dass sie erst gegen 23 Uhr Schichtende hatte und den Bus nehmen würde.
»Nach all der Aufregung, die vor ein paar Wochen hier passiert ist und allem, ist es echt gut, ein bekanntes Gesicht wiederzusehen.« Jasmina schien ehrlich betroffen zu sein. »Vor allem nachdem, was mit Adria...« Ihre Stimme nahm einen leicht brüchigen Klang an. Rüya verzog das Gesicht beim plötzlichen Aufwallen von Schuldgefühlen. Es hätte sie sein sollen, die jetzt tot war, nicht Adria. Sie war es gewesen, die diesen Mörder auf sich aufmerksam gemacht und irgendwie provoziert hatte, und auch sie war es, die jetzt der Grund für Adrias Tod war. »Du hattest einige Schichten mit ihr, oder?«, fragte Rüya leise. Sie bemerkte die Tränen in Jasminas Augen, gegen die sie energisch anblinzelte. »Ich habe ihr den Job besorgt gehabt.«
Selbstanklage. Schuld. Trauer. Mitfühlend legte Rüya die Hand auf Jasminas Schulter, denn sie wusste genau, welche Last diese trug. »Es war nicht deine Schuld«, wisperte sie. »Du hättest das nicht wissen können. Niemand von uns hätte es.«
Ein Schluchzen entrang sich ihr, doch sie fing sich recht schnell wieder. Eine weitere Kellnerin, die um die vierzig war und rote, strohige Haare hatte, warf uns einen bitteren Blick zu und meckerte, dass wir wieder an die Arbeit gehen sollen statt herumzustehen. Danach kamen sie nicht zu einem weiteren Gespräch.

  »Kalt«, stieß Rüya zitternd aus und kletterte in den Range Rover. Mit dem Schließen der Tür sperrte sie die kalte Nacht hinter sich. Azads Gesicht war fast vollständig in Dunkelheit gehüllt. Fast schon skurril stachen seine Wangenknochen und seine Unterlippe in dem wenigen Licht hervor, während seine restlichen Gesichtszüge im Schatten untergingen. »Das ist der Winter für gewöhnlich, Miss Ich-trage-keine-Winterjacke.« Natürlich konnte er sich den neckenden Unterton nicht verkneifen. Blitzartig fühlte Rüya das Gewicht des ungewohnten Metalls an ihrem Finger und etwas in ihrem Innern schmolz dahin. Sie konnte ihn nur anstarren, während er den neuen Gang einlegte und anfuhr.
»Hast du einen schönen Tag gehabt«, fragte er, während er den Schulterblick machte und dabei ihren streifte. »Einen denkwürdigen auf jeden Fall«, konnte sie sich nicht verkneifen. Er zwinkerte ihr lässig zu und setzte ein träges Grinsen auf. Mein Gott!
Er war umwerfend, wenn er lächelte. Alles misstrauische und vorsichtige, all die harten Kanten und tiefen Furchen, die so gar nicht erkennbar waren, entspannten sich von einem auf den anderen Moment und er wurde zu einem anderen Menschen. Als würde er auf eine Figur zurückgreifen, die er einmal gewesen, aber jetzt schon lange nicht mehr war. Sie starrte ihn immer noch an. Und er grinste breiter. »Sag mal, was habe ich getan, dass du die Augen kaum von mir lassen kannst? Bin ich über Nacht zum Superhelden geworden?«
Wenn dann wohl bloß zu ihrem Helden. Eigentlich sollte das jetzt der Moment sein, indem Rüya peinlich berührt den Kopf senkte und rot anlief. Stattdessen konnte sie einfach nicht aufhören ihn anzuschauen. Er war so wunderschön!
Erst das Klingeln ihres Telefons zerriss den Zauber des Moments. Hastig kramte Rüya danach und erblickte schon auf dem Display die Nummer des Pflegehauses, in dem Selin untergebracht war. Voller Sorge meldete sie sich. »Hallo?«
»Hi! Entschuldigen Sie die Störung, Rüya. Abby hier. Aus dem Pflegeheim. Könnten Sie vielleicht kurz vorbeikommen? Ich weiß, dass es recht spät ist, aber Selin hatte einige schlechte Träume und will sich jetzt partout nicht beruhigen...« Besorgt sog Rüya die Lippe zwischen die Zähne und sagte hastig, dass sie unterwegs sei.
»Selin?«, fragte Azad knapp. Rüya brauchte nicht viel zu sagen, bloß zu nicken und er wendete schon den Wagen. Rüya wurde fast zerfressen von Sorge und Schuld. All die Jahre hatte sie immer versucht ihre kleine Schwester zu beschützen und die Horrorstory ihres Lebens zu versüßen. Aber jetzt? Jetzt kam irgendein Verrückter daher und schoss diese Ordnung wortwörtlich nieder. Selin sollte jetzt eigentlich bei ihr sein. Es dürfte keine Sozialarbeiterin geben, die anrief und Rüya her bat, weil sie Selin nicht beruhigen konnten.
»Ich will sie bei mir haben«, flüstere Rüya düster. Azad warf ihr einen Blick aus zusammengezogenen Augenbrauen zu. »Ich weiß. Ich auch.«


»Erzählst du mir eine Geschichte?« Selin gähnte müde und kuschelte sich an Rüyas schlanken Körper. Das schmale Bett war zu klein für beide und Rüya musste aufpassen, dass sie nicht rausfiel. Beruhigend fuhr sie Selin über die blonden Locken und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Hm, was möchtest du denn hören?«
»Eine Prinzessinnengeschichte.« Sie nuschelte und drückte sich näher an Rüya. Das kleine Mädchen redete nicht über ihre Albträume. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort darüber zu erzählen. Wahrscheinlich, weil sie genau wusste, dass sie auch ihre ältere Schwester belasteten. Rüya kniff leicht die Augen zusammen. Es war das erste Mal, dass Selin nach einer Geschichte fragte. Selin hasste Geschichten. Die, über Prinzessinnen, besonders. Prinzessinnen lebten in einer Welt, in der alles gut ausging. Sie waren eine Wunschvorstellung. Ein Traum. Aber die reale Welt? Mit der wurde sie schon als Dreijährige konfrontiert. Gewalt und Brutalität hatten ihr die Chance auf eine schöne Zukunft gestohlen.
Tief holte Rüya Luft und fing an zu erzählen.

Azad warf Rüya einen verzweifelten Blick zu, während er mit einer Tasse Kaffee an ihr vorbeiging. Sein Oberkörper streifte ihren Arm. »Warum haben wir es ihr eigentlich nochmal gesagt?«, fragte er kritisch, mit einem leicht reumütigen Unterton. Natürlich wusste Rüya, dass er das nicht wirklich ernst meinte. Aber gerade, nachdem Sie Tante Necmiyes lebhaften Ausführungen zuhören musste, warum sie es ihr denn so lange verschwiegen hätten und weshalb es so wichtig sei, dass alles einen traditionell richtigen Weg annahm, konnte sie ihn mehr als nur nachvollziehen.
»Azad Kaya!« Fluchend blieb er stehen. Seine Tante hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Wag es gar nicht, dich zurückzuziehen! Du wirst jetzt dieses Mädchen in Ruhe lassen und alles richtig angehen! Morgen Abend darfst du nach traditioneller Art um ihre Hand anhalten.«
Rüya stöhnte. Ihr wurde bang. Necmiye Arslan nahm die Angelegenheit ernster und schien es als einen absoluten Regelverstoß zu halten, wenn nicht alles nach Tradition und Anstand verlief. Einige könnten jetzt meinen, dass sich Necmiye nicht einmischen sollte; dass es nur eine Angelegenheit zwischen Azad und Rüya sei, aber beide hatten die ältere Frau auf eine Weise liebgewonnen, dass sie für sie der Ersatz einer Familie war, die sie vor langer Zeit zurücklassen mussten.
»Okay, dann morgen.« Azad zwinkerte ihr verstohlen zu und deutete auf die Tür. »Ich muss dich jetzt rausschmeißen, Rüya, sonst befürchte ich, verstoßen zu werden.« Seine kritisch besorgte Mine war bloß eine Farce und Necmiye Teyze lachte, geschmeichelt und tadelnd zugleich. »Sopalıksın, oğlum. (Du bist zum Schlagen, mein Junge.)«

Nervös wischte Rüya ihre Hände an der Schürze ab, die sie danach hastig auszog. Die ganze Wohnung duftete nach Ofenkartoffeln und anderen Leckereien. Sie hatte sich Mühe gegeben und die ganze Wohnung auf Vordermann gebracht, nachdem Necmiye Teyze die Ankündigung ihres Besuchs festgemacht hatte. Dafür hatte sie einen neuen Rekord im Saubermachen aufgestellt und war jetzt komplett ausgelaugt, wenn da nicht die Nervosität wäre, die sie zu einem Energiebündel verwandelte. Die Tür hatte geläutet und sie wusste, dass Azad dahinter stand. Eilig öffnete sie und hieß ihre Gäste mit einladender Tür Willkommen. Sofort wurde sie von Necmiye Teyzes überschwänglichen Begrüßungen vereinnahmt. Dahinter kam Azad in einem strahlend weißen Hemd und Blumen zum Vorschein. Er zog ein Regenwetter-Gesicht und meinte anklagend: »Sie hat mich gezwungen, ich hatte überhaupt keine Wahl.«
Spöttisch entgegnete Rüya: »Hat sie dir deine Waffe an den Kopf gehalten?«
»Ja«, maulte er wie ein kleines Kind.
»Armer Junge. War bestimmt traumatisch zu erleben, wie angstvoll es sein kann, Seine dominierende Machtstellung zu verlieren und auf der anderen Seite der Waffe zu stehen.«
Azad lachte und überreichte ihr die Blumen. »Du bist eine richtige kleine Hexe, Rüya Özdemir.« Sie nahm ihn den Mantel ab. »Und du eine Plage von einem Mann.«
Das brachte ihn wieder zu einem Lachen, doch er zwinkerte ihr schelmisch zu. »Zufällig weiß ich, dass du diese Plage von einem Mann heiraten wirst.«
»Azad!«
»Keine Sorge, dein Geheimnis ist sicher aufgehoben bei mir.« Sein Lachen begleitete ihn, als er es sich im Wohnzimmer gemütlich machte. »Wo sind die Süßigkeiten, Junge?«, fragte Necmiye Teyze. Jetzt machte Azad wirklich ein betroffenes Gesicht. »Oh, scheiße...«
Necmiye Teyze schnalzte tadelnd mit der Zunge und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Sie setzte zu einer Rede an, der Azad nicht entkommen konnte, doch Rüyas schadenfreudiges Grinsen war es ihm wert.
Sie hatte erwartet, dass der Besuch etwas steif und förmlich vonstatten gehen würde. Aber stattdessen brachten Azads Witzeleien und Necmiye Teyzes Tadel eine gemütliche und entspannte Atmosphäre ein. Rüya servierte das Essen und zum Schluss Kaffee. Leider hatte sie keine Ahnung, wie man Mokka zubereitete, der normalerweise bei dieser Art Besuch serviert wurde. Ihre Mutter hatte bedauerlicherweise nicht lange genug gelebt, um es ihr beizubringen. Necmiye Teyze war gewillt über diesen Verstoß von Tradition hinwegzusehen, trotzdem stimmte es sie traurig. Ihre Familie sollte jetzt hier sein; hier bei ihr. Ihr Vater sollte Azad gegenüber sitzen und ihre Mutter sollte neben Rüya stehen und ihr die Nervosität nehmen.
»Rüya, meine Liebe«, fing Necmiye Teyze an und legte klappernd ihre Tasse auf den kleinen Beistelltisch. Ihr Zuhause war schäbig und die Möbel alt, aber wenigstens hatte sie welche. Azads Tante griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, die Situation ist ziemlich ungewöhnlich. Azad hat ebenfalls keinen Vater und auch keine Mutter. Aber ich bin hier, für euch beide. Daher frage ich jetzt, möchtest du, wenn Allah erlaubt, Azad heiraten?«
Sie schielte kurz zu Azad, der ebenfalls zu ihr schaute. Seine Augen waren ernst und etwas erschreckend tiefes loderte in dem Blau, das sie nicht ganz definieren konnte. Trotzdem reckte sie entschlossen ihr Kinn nach vorne und sagte Necmiye Teyze unverblümt »ja« ins Gesicht. Ja, sie wollte Azad Kaya heiraten.
Ja, sie wollte seine Frau werden.
Ja, sie wollte ihre Zukunft mit ihm teilen. Denn sie hatte erkannt, dass es keinen anderen gab, der sie jemals so sehr gereizt hatte wie er. Der sie so sehr herausgefordert hatte. Und der ihr gezeigt hatte, dass die Realität schöner sein konnte, als sie dachte.

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