Wandelnder Traum

By yazkalbim

116K 7.5K 1.6K

»Wenn du eine Lüge lebst, wirst du sie irgendwann so sehr verinnerlichen, dass sie zu deiner Wahrheit wird.«... More

Einleitung
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Abschluss
Wattys2020

Sechs

2.9K 229 60
By yazkalbim


A Z A D


»Ich gehe. Du kommst klar?« Azad schaute kurz von den Unterlagen auf, die unordentlich verbreitet vor ihm lagen. »Geh ruhig«, nickte er seinem Partner Joshua zu. Dieser schnappte sich seine Tasche. Der Arbeitsbereich im Polizeirevier war fast vollständig leer. Es brannten nur noch einige Lichter, die zu den wenigen Männern gehörten, die ebenso wie Azad noch nicht von ihrer Arbeit lassen konnten.
»Bleib nicht zu lange«, meinte Joshua, der Azads Angewohnheit in der Arbeit zu versinken sehr gut kannte. Dieser verdrehte natürlich seine Augen, woraufhin sich Joshuas Lippen zu einem Grinsen formten. Bedeutungsvoll schielte er zu den vier Tassen Kaffee, die auf dem chaotischen Schreibtisch gerade so Platz fanden. Es sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Joshua wunderte sich, wie Azad bei all diesen Chaos überhaupt Unterlagen finden konnte, ganz zu schweigen davon, wie er so an ihren Fällen arbeiten konnte. Er machte den Mund auf, um einen entsprechenden Kommentar abzugeben, doch Azad, der Joshuas Absicht in seinem Gesicht lesen konnte, kam ihm zuvor. »Nein!«, drohte er mit finsterem Blick und einem Stift, den er auf seinen Partner richtete. »Wag es nicht auch nur einen Mucks dazu abzugeben, Adams!«
Wie ein Unschuldslamm blickte Joshua drein, hob seine Hände. Beleidigt schob er schmollend seine Unterlippe vor. Braune Locken fielen dem Mann ins Gesicht und verliehen ihm einen lockeren Touch, der, verbunden mit der gebräunten Haut und den verwaschenen Jeans, sein australisches Surfererbe hervorhob. »Du verdirbst mir den ganzen Spaß, Mann! Wozu hat man sonst einen Partner?«, beschwerte er sich beleidigt. »Jetzt soll ich dich nicht einmal aufziehen dürfen? Was kommt als nächstes? Willst du mir das Atmen in deiner Nähe verbieten?«
»Wenn es dich tröstet, würde ich dich abknallen, statt mich mit dem erfolglosen Versuch, mich einem Rindvieh wie dir gegenüber durchzusetzen, herumzuschlagen. Am Ende tust du doch eh, was du willst.« Weil er es nicht lassen konnte, fügte er großspurig hinzu: »Und hör auf zu schmollen. Du sieht scheiße dabei aus.«
»Hier, siehst du das?«, fragte Joshua und zeigte Azad den Mittelfinger. »Der ist für dich.«
»Und der für dich«, mischte sich eine dritte Stimme von hinten ein, gefolgt von einem Schlag gegen den Hinterkopf. Azad lachte schallend. Wieder einmal kassierte Joshua einen Schlag vom Boss, der es natürlich nicht lassen konnte, Joshua gleichzeitig zu rügen. »Wir sind in einem Revier. Hier zeigen wir keine Mittelfinger gegenüber unserer Kollegen. Muss ich Sie wieder in die Grundschule schicken, Adams, und hier überall Regeln für ein gemeinsames Miteinander aufhängen?«
»'Tschuldige, Boss«, räusperte sich Joshua, warf Azad einen gemeingefährlichen Blick zu, ehe er meinte: »Ich wurde in Versuchung geführt.«
Der Boss schaute zwar finster und streng, doch Azad und Joshua kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass er bloß sein Pokerface aufgesetzt hatte. »Wenn Sie mir jetzt sagen wollen, Sie seien Eva und Azad Adam, dann weiß ich wirklich nicht, wie Ihnen noch zu helfen ist, Adams!«
Mit diesen Worten ließ er Joshua empört zurück. Er setzte mehrmals stotternd an »Aber, Boss...«, zu sagen, als er sich jedoch von seiner Fassungslosigkeit erholt hatte, war der Boss schon viel zu weit weg. Azad, der nicht anders konnte, als gnadenlose Schadenfreude zu verspüren, lachte belustigt über Joshuas Situation.
»Hat er...«, stammelte dieser während er seinem Boss nachsah, »hat er das gerade ernsthaft getan?«
»Du wurdest gerade vom Boss höchstpersönlich fertig gemacht, Adams«, bestätigte Azad seinem Partner. Natürlich nicht ohne gebührendem Spott und einem Grinsen.
»Halt's Maul, du Wichser.« Joshuas Knurren und sein genervtes Augenrollen sollten Azad wohl einschüchtern. Gleichzeitig verschränkte er seine kräftigen Arme vor der Brust. Das Schmollen blieb bestehen, wenn auch eher unbewusst, wie Azad vermutete. Um ihm jedoch Angst zu machen, bedurfte es weit mehr. »Du schmollst schon wieder, wie ein kleines Mädchen, Adams«, zog Azad weiterhin über Joshua her.
»Ja, das tut er«, warf Cara, eine ihrer Kolleginnen, von hinten ein. Sie kam geradewegs auf die beiden Männer zu. Ihre blonden, zu einem Zopf gebundenen Haare, wippten leicht hin und her. »Hey, Jungs, könnt ihr mir vielleicht einen Gefallen tun?«
Ohne abzuwarten, um welchen Gefallen es sich überhaupt handelte, rief Joshua vehement »Nein!« ein. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er sie an; sein Körper abweisend von ihr gewandt. Abrupt blieb Cara stehen, funkelte ihn gleichermaßen beleidigt und böse an. »Du weißt doch gar nicht, um was es geht.«
Beide Sturköpfe blitzten sich gegenseitig an. Sie lieferten sich geradezu ein Blickduell, der Azad noch weiter amüsierte. Bedeutungsvoll sah er zwischen beiden hin und her. Wieder einmal kriegte er die Anziehungskraft zwischen den beiden mit. An einigen Tagen drückte sie sich in Freundlichkeit aus, an anderen war sie wie ein Tornado, der sich in Gezanke und Wut entlud. Unwillkürlich fragte er sich, wann beide wohl so weit über ihren Stolz gehen konnten, dass sie sie sich eingestanden. Heute war Gezanke auf dem Plan.
»Deine Gefallen sind nie einfache Gefallen!«, argumentierte sein Partner.
»Sei kein Weichei! Das stimmt gar nicht!«
»Natürlich!«
»Nein, eben nicht!«
»Ich erinnere dich nur zu gern, an den letzten Gefallen, um den du und gefragt hast«, entgegnete Joshua spöttisch.
»Da war es ganz allein eure Idiotie, die Schuld an den Komplikationen getragen hat.« Cara plädierte weiterhin für sich. Ehe der Streit noch ausartete, und bei Gott, Azad wusste nur zu gut, wie sehr er das konnte, beschloss er die Wogen zu glätten. »Was gibt's denn, Cara?«
»Nimm dir ein Beispiel an Azad«, zischte sie Joshua gehässig zu, ehe sie ihm antwortete. »Ich weiß, ihr habt schon Feierabend, aber wir haben hier noch 'ne Menge zu tun und gerade kam eine Meldung über eine handgreifliche Auseinandersetzung rein. Ein Mann soll sich an einer jungen Frau vergriffen haben. Nähe des Fabrikgeländes, in einem der Wohnblocks.«
Alles in Azad gefror. Als hätte ein Blitz eingeschlagen, war er plötzlich todernst. Eine düstere Vorahnung machte sich in ihm breit. »Welche Straße? Wer ist die Frau?«
Leicht verstört über den plötzlichen Wandel schauten ihn beide etwas verwundert und vielleicht auch misstrauisch an. Er betete innerlich, dass sich sein Verdacht nicht bestätigte. Doch als ihm Cara die Straße nannte, verstärkte er sich bloß. Wenn ihm das Schicksal einen Streich spielen wollte, war das der passende Zeitpunkt. Eilig sprang er auf, nahm seine Waffe aus der Schreibtischschublade, und fluchte ohne unterlass, während er ein neues Magazin einsetzte. »Beweg deinen Arsch, Adams«, befahl er. Joshua war schlau genug, um sich ebenfalls hastig in Bewegung zu setzten. Sie liefen an einer verdutzten Cara vorbei, die selbst noch verwirrt war, als sie schon nicht mehr zu sehen waren.


Ungeduldig tippte Azad jedes Mal mit dem Zeigefinger auf den Lenkrad, wenn eine Ampel auf rot geschaltet war und sie warten mussten. Seine Kiefer waren zusammengepresst. Sein Magen war nervös verknotet. Die Angst hatte ihn wohl vollständig in Griff. In all der Zeit ließ er den Gedanken, dass Rüya etwas passiert sein könnte, nicht zu. Mit der Hand fuhr er sich durch die vollen Haare, strich sich über die Stoppeln auf Kinn und Wangen. Er warf einen Blick auf den Seitenspiegel, um abzuschätzen, wie viele Autos hinter ihnen fuhren. Der Gedanke, rücksichtslos aufs Gas zu drücken und in ungehemmter Schnelligkeit an ihrem Ziel anzukommen, war da. Schon bei dem Gedanken konnte er die Erleichterung, die er sich vorstellte, wenn er endlich am Ziel ankam, vorstellen. Doch er bezwang diesen Gedanken, schließlich lieferte er sich keine Verfolgungsjagd mit einem Kriminellen. Er war Gesetzeshüter, kein Gesetzesbrecher. Wobei es natürlich seinen Reiz hatte, einige Gesetze zu brechen.
Immer wieder spürte er Joshuas Blicke auf sich. Fast blaffte er ihn an, endlich mit der Sprache herauszurücken.
»Okay, wer ist sie?«, fragte er ruhig. Azad schaute kurz zu ihm, dann wurde die Ampel endlich grün und er fuhr los. »Wer?«
Selbst in seinen Ohren klang seine Stimme gepresst und angespannt. Joshua hob seine Augenbraue. »Das Mädchen, das du magst. Wer ist sie?«
Gedankenverloren murmelte Azad: »Wie kommst du darauf, dass ich jemanden mag?«
Ein Mundwinkel seines Partners verzog sich amüsiert nach oben. »Sie ist es doch, von der du befürchtest, dass die überfallen wurde, oder etwa nicht? Du hörst nur die Adresse und bist angespannter, als ich dich jemals erlebt habe. Dabei haben wir schon so einige brenzlige Situationen überwältigt. Mach mir also nichts vor, Bruder. Ich bin Polizist. Ich finde so etwas raus.«
»Es ist kompliziert«, brummte Azad verschlossen. Aber ließ sein nachsichtiger Partner locker, nachdem er die Witterung aufgenommen hatte?
Natürlich nicht. Fast schnaubte Azad.
»Verarsch mich nicht, Alter, und spuck endlich mit der Sprache raus. Komm schon, Mann. Ich bin dein Partner. Wir sind wie zwei Teile eines Ganzen. Ohne dich bin ich nicht ich. Du bist der Mann, dem ich mein Leben anvertraue, wenn ich da draußen bin und die Bösen jage. Du bist der Mann, auf dessen Rückendeckung ich im Gefecht zähle. Ich vertraue dir mein Leben an und du mir nicht einmal, wer diese Frau ist.« Joshua beklagte sich theatralisch über Azads Verschwiegenheit.
»Verrate ich dir einmal etwas nicht, machst du mich schon zu deinem Mann. Willst du mich vielleicht noch heiraten? Können wir's gleich offiziell machen.« Beide wussten genau, dass Azad ihm mehr als nur diese Sache vorenthielt. Er hatte Geheimnisse, die niemand in seinem Leben kannte. Er hatte nie so etwas angedeutet, aber Joshua war alles andere als dumm. Tatsächlich war er sogar ziemlich intelligent. Er wusste, dass sein Partner ihm nicht alles über sein Leben verraten hatte, doch er wusste, wann er besser den Mund hielt und Geheimnisse sein ließ, was sie waren - eben Geheimnisse.
»Erwarte bitte keinen Kniefall von mir«, alberte Joshua weiter. »Ist nicht so mein Stil.«
»Oh, ich glaube, das lernst du noch, bis es endlich so weit ist.« Es war bloß ein Murmeln, aber eine deutliche Anspielung auf Cara. Zumindest deutlich für Azad. Joshua verstand sie nicht.
»Du hast gesagt, es ist kompliziert«, setzte Joshua erneut an. Azad erkannte seine ausweglose Lage und seufzte resigniert. »Du wirst wohl nicht locker lassen, was?«
»Im Leben nicht!«, strahlte Joshua. Es war das erste Mal, dass er etwas über eine Frau in Azads Leben mitkriegte. Diese Gelegenheit ließ er sich unter keinen Umständen entgehen.
Widerstrebende Gefühle keimten in Azad auf. Seine Hände umfassten den Lenkrad eine Spur fester. Er war angespannt, bei dem Gedanken, Joshua von Rüya zu erzählen und ihm einen tieferen Blick in sein Innerstes zu gewähren. Trotz der guten Partnerschaft war er auf der Hut. Er war immer auf der Hut. Es waren Freunde, die zu Verrätern werden konnten. »Bloß eine Bekannte, die meiner Tante sehr am Herzen liegt«, presste er trotzdem heraus.
»Dir oder deiner Tante?« Die Belustigung in Joshuas Stimme war nervenauftreibend. Um eine Antwort wurde er jedoch gerettet, denn sie waren nun angekommen. Eine kleine Traube von Menschen hatte sich vor dem Haus, in dem Rüya wohnte, angesammelt.

Eilig verschaffte er sich einen Überblick über die anwesenden Gesichter. Drängend suchte er nach den schwarzen Locken, während sein Partner sie beide ausweiste. Aufgeregt fingen die paar Leute an durcheinander zu reden, eine junge Frau weinte hysterisch. Gleichzeitig wurden Joshua und Azad mit misstrauischen Blicken, teilweise schon fast feindselig, gemustert. Die Polizei hatte keinen besonders guten Ruf in diesem Teil der Stadt. Tatsächlich wurde es zu meist eher bevorzugt, Probleme auf eigene Faust zu lösen. Selbstjustiz jedoch verschlimmerte die Lage hier bloß.
Während Joshua sich nach dem Opfer erkundigte, bahnte sich Azad einen Weg durch die Leute. »Rüya.«
Der Knoten in seinem Bauch löste sich erst, als er den Lockenkopf entdeckte, die auf ihre schmalen Schultern fielen. Sie hatte einen Morgenmantel an, ihre Arme um ihre Mitte geschlungen und zitterte. Große, ängstliche Augen blickten in seine. Er ließ den Blick kurz prüfend über ihren Körper gleiten, wobei ihm natürlich die weichen Rundungen ihres Körpers nicht entgingen, die er jedoch geflissentlich ignorierte. Er wollte bloß wissen, ob sie verletzt war.
»Ist alles okay? Was ist passiert?«, fragte er stürmisch. Besorgt. Erleichtert. Drängend. Rüya zitterte stärker, aber schaffte es, ihm fest in die Augen zu sehen. Ihre waren fast dunkelblau in der Dunkelheit, nur beleuchtet durch die Straßenlaternen und das Blaulicht. In ihren Augen klafften Abgründe, die Unheilvolles und unendliches Leid ankündeten. In ihren Augen lag ein verzweifeltes Flehen.
Tränen glänzten in ihren Augen und Azad wusste, er war verloren.

Continue Reading

You'll Also Like

137K 9.6K 80
"Sie waren gemeinsam in den Strömen dieser Welt und stürzten einsam von den Klippen dieser Welt." Da stand er nun vor mir. Schmerz spiegelte sich in...
1.2M 55.4K 75
Umgeben von Drogenabhängigen, Soziopathen und gescheiterten Existenzen. Als Elizabeth zwangsläufig die Schule wechseln musste, war ihr bewusst, wofür...
Deadly People ✓ By Quinn

Mystery / Thriller

178K 6.3K 50
Ally hört Schüsse. Dann die Schreie der Menschen im Saal. Unter der Führung des skrupellosen Reyes wird der Terror ausgeführt. Die Gäste des heutigen...
2.5M 71K 74
Ich wäre in meiner Welt voller Lügen ertrunken, bis er gekommen ist. Er zeigte mir ein Leben, ein Leben was ich noch nie zuvor erlebt habe. Wäre er n...