Erstaunliche und unfaire Fähigkeiten

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Kapitel 8
*** Erstaunliche und zum Teil unfaire Fähigkeiten ***
1. Dezember 1762



Mein Traum hatte mich wieder meine Verlobte sehen und auch spüren lassen. Erschrocken fuhr ich hoch, weil ich neben mir eine Bewegung wahrnahm.
Als meine Augen sich an dieses Zwielicht gewöhnt hatten, nahm ich die Umrisse von ihr wahr, sah ihren Körper unter der Decke sich gleichmäßig mit jedem Atemzug bewegen. Ich hatte es nicht geträumt, es war auch keiner dieser Albträume!
Alexandra war wirklich wieder hier! Damit ich sie nicht aus ihren Träumen riss, sank ich langsam wieder zurück in die Kissen und sah ihr, wie damals schon so oft, beim Schlafen zu.

Plötzlich begann sich meine Verlobte zu bewegen und schien sich aus einem Griff befreien zu wollen oder aus Bettdecken... auf jeden Fall trat sie mir mit aller Wucht gegen mein Schienbein und mir entwich ein lautes „Aua!", es tat wirklich weh, wer konnte ahnen, dass diese kleine Person so fest treten konnte!
Ich musste dennoch grinsen und wünschte auch ihr einen guten Morgen, mit der Bitte mich doch das nächste Mal anders zu wecken!
Zuerst sah ich Verwirrung in ihrem Gesicht, dann Erstaunen und dann... bekam ich ihre volle Euphorie zu spüren. Sie sprang förmlich auf mich drauf und übersäte mich Küssen und den Worten
„Du bist wirklich hier, ich bin wirklich hier! Es war kein Traum!" Ich konnte nur erwidern, dass ich mich ebenso freute und drehte sie unter mich. „Haytham... ich... könnte gerade wieder einfach heulen! Ich dachte, ich hätte das alles nur geträumt!"
Ihre Hände legten sich auf meine Wangen und diese grünen Augen füllten sich langsam mit Tränen.
Also versicherte ich meiner zukünftigen Frau, dass es KEIN Traum war und ich dies bezeugen konnte aufgrund des doch sehr schmerzvollen Trittes. Da war doch tatsächlich ein schlechtes Gewissen in ihren Gesichtsausdruck getreten!

In diesem Moment war plötzlich etwas anders, es war, als könne ich ihre Gedanken förmlich vor mir sehen und wir wurden beide still. Nur unser Atem war noch zu hören, langsam hob ich ihre Arme über den Kopf und sagte mit kratziger Stimme „Ich will dich lesen, Alex, öffne deinen Geist..."
Woher ich wusste, WIE ich es tat, erschloss sich mir in diesem Moment noch nicht. Auch wusste ich nicht, warum wir mit einem Male so intensiv kommunizierten. Gesprochene Worte waren plötzlich nicht mehr von Nöten, ich wusste, dass mich Alex wollte, ebenso dass sie mich gewähren ließ ohne wenn und aber!
Ich ließ diese Frau jetzt genauso in meinen Kopf eindringen, ließ sie mich erkunden, auch wenn sie bereits wusste, WAS ich wollte und wie meine Wünsche und Vorlieben aussahen!

Wir waren mehr als Eins! Wir gingen tatsächlich noch einen Schritt weiter um den anderen besser zu verstehen und analysieren zu können. Was ich in ihrem Geist sah, war wirklich unanständig gerade, ich wusste aber, dass es in mir nicht anders aussah, ich ließ sie aber weiter in mir lesen und in diesen grünen lüsternen Augen sah ich, dass sie bereit war für diesen neuen Schritt!
Es war eine Ebene, so nannte es Alex, welche wir für uns schufen. Dort konnten wir unter uns sein und es würde niemand jemals diesen Bereich ergründen können, er war wie ein gesicherter Raum.
Jetzt verstand ich auch, wie meine Verlobte sich komplett abschotten konnte. Sie ging in einen gesicherten Bereich und schloss die Tür im Geiste! Diese Erkenntnis war so befreiend für mich, dass ich mich noch ein kleines Stück mehr fallen lassen konnte!

Noch herrschte zwischen uns nicht völlige Harmonie, nicht diese oft zitierte perfekte Symbiose, doch wir hatten einen Grundstein gelegt und ich fühlte mich freier als je zuvor mit ihr in meinen Armen!
Mit einem Male spürte ich nur noch diese Erlösung und sah Alex fragend an und sprach diese verwirrenden Gedanken aus.
„Das ist diese neue Ebene, Haytham. Wir ... brauchen eine andere Kommunikation... Wenn ich an deiner Seite sein soll, dann muss das oft ohne Worte passieren. Wir müssen uns blind aufeinander verlassen können." erst langsam kam sie wieder zu Atem, genau wie ich auch.

Plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters...
„Ignoriert mich einfach! Ich bin nicht wirklich hier, aber Alex... du weißt, diese Art des Redens ist essenziell! Gerade in heiklen Situationen."
Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, als würde er sich von ihr verabschieden!
„Nein, das glaube ich nicht. ... er wird da sein. Er hat es dir ja auch versprochen. Er lässt mir nur ein wenig mehr Freiraum für meinen Geist... also... du weißt... er muss ja nicht alles sehen!" grinsend musste ich mir eingestehen, dass mir das auch lieber war!

Ich lag mit Alex einfach noch eine Weile so da und wir genossen diese Nähe, diese Zweisamkeit, auf welche wir in den letzten beiden Jahren verzichten mussten.
„Ich platze mal wieder völlig unangemeldet in dein Leben, entschuldige! Was hast du heute noch zu erledigen?" mit diesem Themenwechsel riss Alex mich aus meinen Gedanken und mir wurde wieder bewusst, dass sie wusste, dass es einen Alltag gab, in welchen sie, wie sie richtig bemerkte, platzte!
In mir wuchs ein wenig Stolz auf diese Frau, sie wusste nämlich, dass es nicht einfach so ein Besuch war, sondern sie veränderte etwas.
Dieser Gedanke war mir bei unserer ersten Begegnung nicht gleich gekommen, doch später wurde mir bewusst, dass sie nicht leichtfertig diese Reisen machte.
Ich erklärte ihr ein wenig meinen Tagesablauf und auch, da jetzt Winter war, wir hier nicht wirklich Arbeit hatten. Bis auf die üblichen Korrespondenzen und Belange der Pächter und Arbeiter!
Ich würde aber ihre Unterstützung begrüßen, Alex musste noch den Angestellten und ... eigentlich musste ich meine Verlobte jetzt erst einmal vorstellen, ganz allgemein! Und ich würde es mit Stolz tun, auch wenn es sich überheblich anhören mag, doch es war so. Ich war stolz eine solche Frau an meiner Seite zu haben, welche sich durchzusetzen vermochte, welche mich unterstützte und... welcher ich blind vertrauen konnte. Ich würde für Alexandra durch die Hölle gehen!

Als sie mich nun bat, ihr das ganze Anwesen zu zeigen, damit sie einen Überblick hatte, wusste ich im ersten Moment nicht, ob sie mich foppen wollte.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass gerade ALEX sich nicht vorher ausgiebig schlau gemacht hatte. Nein, das würde ihre Neugierde nicht zulassen... doch sie versicherte mir, dass sie nicht immer so wissbegierig war und sich auch durchaus auf Überraschungen einlassen konnte. Wer es glaubt, wird selig, oder wie heißt es so schön?
Sie wusste also, wie meine Plantage in ihrer Zeit hieß, sie wusste, wohin sie segeln musste... mehr wollte Alex vorher nicht in Erfahrung bringen.
„Danke, Master Kenway, ich bin nicht immer so neugierig..." provozierte sie mich mit diesen Worten und dieser Art, wie sie meinen Namen aussprach?
Bei Gott, diese Frau würde mich noch einige Jahre um den Verstand bringen und mir noch mehr graue Haare bescheren!

Das Frühstück war für mich das erste Mal seit Monaten entspannend und ich sah Alex dabei zu, wie sie völlig versonnen diesen Kaffee in sich aufnahm. Ich würde es vermutlich nie verstehen, sie versicherte mir aber, dass ich genügend Erklärungen bekommen könnte, wenn ich denn wollte. Ich lehnte dankend ab und aß mit Heißhunger mein Frühstück nach dieser Nacht!

Es war an der Zeit Alexandra in die Arbeiten und Gepflogenheiten der Plantage einzuweisen.
Auch würde ich ihr noch das Anwesen im Ganzen zeigen müssen. Doch fürs erste gingen wir in die Stallungen, ich hatte noch zwei Neuzugänge an Pferden zu vermelden. Mittlerweile besaß ich 6 dieser majestätischen Tiere und war stolz darauf, ich muss ehrlich sagen, ich liebte sie. Hier hatte ich die Möglichkeit, meine kleine Leidenschaft für diese Tiere auszuleben!
Wir betraten den Stall und Mr. Mackenzie verwickelte mich sogleich in ein Gespräch, es ging um die Futterreserven, welche zur Neige gingen und ich bat ihn, später dann zu mir, damit wir die Bestellungen noch einmal durchgehen konnten.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Verlobte meinem neuesten Zugang über die Nüstern strich und einen völlig abwesenden Blick inne hatte dabei.
Mit den Worten, dass sie aufpassen sollte, weil dieser Hengst nicht ganz einfach war und oft einfach schnappte, dachte ich, würde sie von ihm ablassen.
Mit Erstaunen sah ich aber, dass er einfach völlig ruhig dastand, keine Bewegung, es schien, als konzentrierte dieser Hengst sich auf die Gedanken von Alexandra. Meine Verlobte fragte, was das für eine Rasse war, sie würde sich nicht auskennen und wir gaben ihr die entsprechende Einweisung.
Es war ein Friese, welchen ich erst vor kurzem von einer anderen Plantage erworben hatte und welcher auch noch keinen Namen hatte. In diesen grünen Augen lag plötzlich ein völlig entzücktes Leuchten, welches ich noch nie bei Alex gesehen hatte. Ich entschied, dass sie diesem Hengst nun einen Namen geben sollte und dann sollte er ihr gehören!

Meine Verlobte sah für einen Moment in die Augen des Tieres und ich hörte ein leises „Fenrir! Und ich weiß, es ist eigentlich Lokis Wolf... aber, er hat eine sehr ähnliche Ausstrahlung!"  
Nun war es aber an mir und Mr. Mackenzie, meiner Verlobten zu erklären, warum er noch keinen Namen hatte. Es war eher unüblich, jeder gab den Pferden einen eigenen Namen und so wurden sie auch weiter gegeben und verkauft. Es gab nicht immer einen Stammbaum.

Alex' Erklärung war wieder einmal völlig unverständlich. In ihrer Zeit nutzte niemand mehr diese Tiere um von einem Ort zum anderen zu kommen. Sie wurden nicht mehr auf dem Feld gebraucht, geschweige denn für andere Tätigkeiten genutzt.
In was für einer Welt ist Alex bitte aufgewachsen, es hörte sich ein wenig trostlos an, wenn ich es recht bedenke.
Sie hatte ihm einen Namen gegeben, er gehörte ihr und ich sah plötzlich Tränen in ihren Augen!
... Vi kommer godt overens, Fenrir og jeg vil passe godt på dig... hörte ich sie plötzlich sprechen und verstand nicht, was sie meinte.
Für einen Moment sahen Isaac und ich uns an. Als hätte ich sie aus einem Traum geholt, klärte sich ihr Blick bei meinen Worten, die ich an sich richtete!
Dass sie eine andere Sprache genutzt hatte, war ihr nicht bewusst. Alex erklärte, dass sie in das Dänische ihrer Vorfahren verfallen wäre, man hatte sie die Sprache kurz gelehrt. Ab und an würden ihr aber immer mal wieder Sätze und Wörter einfallen. Das war alles mehr als seltsam und merkwürdig. Aber es zeigte mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, diese beiden würden einfach zueinander gehören!

Etwas widerwillig verließ Alex mit mir die Stallungen, sie würde noch reichlich Gelegenheiten haben, sich ihrem Hengst zu widmen. Wobei ich sagen muss, er war wirklich ein wunderbares Tier!
Ich führte meine Verlobte nun ein wenig über unser Anwesen und zeigte ihr unter anderem die Unterkünfte der Angestellten. Jetzt kam ihr Wissen über die Geschichte extrem deutlich zum Vorschein, es war eindeutig, dass sie keine Sklaven dulden würde.
Alex erläuterte die Geschichte in kurzen Worten, dass es wegen Sklavenhaltung und -arbeit, der Sklaverei allgemein, später zu Konflikten kommen würde. Nicht jetzt sofort versicherte sie mir, es würden noch ein paar Jahrzehnte ins Land ziehen.
Mit Tränen in den Augen, dankte sie mir dann, dass ich ebenso auf diese Sklaverei verzichtete. Da waren wir uns einig und wieder einmal wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass ich meine Entscheidungen richtig getroffen hatte. Egal in welcher Beziehung!

Jetzt im Winter sah es etwas trostlos hier aus, doch ich versicherte ihr, dass spätestens im Frühling das Ganze etwas anders aussehen würde.
Was das Gästehaus betraf, bekam ich ebenfalls einen anerkennenden Blick, es war nicht üblich in ihrer Zeit, solche Möglichkeiten für Gäste zu haben. Ich brannte innerlich darauf, zu wissen, wie es in ihrer Zeit war, doch ich würde es vermutlich nie erfahren, leider!

Nachdem ich Alex nun auch den Garten und das dazugehörende private Grundstück gezeigt hatte, gingen wir wieder Richtung Herrenhaus.
Kurz davor eilte uns Sybill entgegen und wirkte schon ein wenig verzweifelt, sie schien uns schon eine Weile gesucht zu haben. Doch sie sagte nur, dass das Mittagessen fertig sei, also folgten wir ihr und ich erzählte noch ein wenig über diese Bepflanzungen und das Grundstück an sich.

Nach dem Essen saßen wir für einen Moment still beieinander, wir schienen beide diese Ruhe zu genießen, aber es war alles andere als unangenehm.
Es gab aber einen Gedanken, welcher mir, seit ich von Alex' Verlobten erfahren hatte, nicht mehr aus dem Kopf ging. Verlobung, sie wurde schwanger, das Kind war auf der Welt... warum hat man nicht geheiratet? Im Grunde war... und es tut mir leid das zu sagen... doch Yannick war in diesem Moment ein Bastard.
Auf meine Frage, warum sie Marius nie geheiratet hat, bekam ich eine Antwort, welche für mich schwer zu verstehen war.
„Keine Ahnung... ich wurde schwanger kurz nach unserem Kennenlernen und... danach... es klingt eigenartig, aber... wir hatten keine Zeit dafür. Und ich habe es auch nie forciert. Warum sollte ich auch. Entweder man will es, oder man lässt es."
Diese Worte waren wirklich etwas weit dahergeholt... mit einem Male sah ich aber diese Trauer und spürte, dass mehr hinter dem Ganzen steckte.
„Haytham, er hat sich vor einigen Monaten das Leben genommen... und ... ich habe immer noch damit zu kämpfen!"
Jesus... das war nicht das, womit ich gerechnet hatte.

Marius hatte eine Fähigkeit der Vorläufer und Götter erhalten. Eine, welcher er nicht gerecht werden konnte. Er konnte Gedanken hören, nicht bloß lesen! Das hieß, Marius hatte permanent Stimmen im Kopf, immerzu hörte er Gewisper!
In diesem Moment wurde mir zum aller ersten male klar, dass die Vorläufer einem nicht immer wohlgesonnen sein können!
„Das weiß ich doch... Aber diese... Vorläufer haben eine Macht, die man nicht immer sofort sieht und das macht mir Angst. Marius war mit seiner Gabe einfach völlig überfordert, das war nicht fair!"
Alex und einige Kollegen sowie Therapeuten, wie sie sie nannte, hatten versucht, Marius vor dem Schlimmsten zu bewahren! Sie alle hatten ihr Bestes gegeben, doch es war vergebens!
Er erschoss sich mit seiner eigenen Pistole in seiner Wohnung.

Ich hatte meine Arme um Alex geschlungen und versuchte sie so zu trösten. Sie machte sich Vorwürfe, ihrem Ex-Verlobten nicht besser geholfen zu haben. Ich versicherte ihr aber noch einmal, dass sie ihr bestes getan hatte und nicht nur sie, auch alle anderen, die Marius zur Seite gestanden haben.
Dennoch konnte ich sie verstehen, wenn man so hilflos dasteht und nichts unternehmen kann! Um sie aufzumuntern, erwähnte ich gespielt böse, dass sie hier ja auch auf IHRE Verbündeten zählen konnte.
Mein Themenwechsel hatte funktioniert, als sie mich jetzt ansah, waren ihre Augen wieder klarer und ein Lächeln war auf ihrem Gesicht erschienen.
„Ja, ich freue mich darauf, auch Faith wiederzusehen. Aber in erster Linie bin ich froh, hier zu sein und endlich dort weiterzumachen, wo ich einen Ankerpunkt habe."
Und jetzt war es Alex, die einen Sprung in ihren Gedanken machte, nämlich hin zu meinem Geburtstag. Ich konnte sie beruhigen, es würde kein Staatsempfang werden, Eheleute Pitcairn und Johnson wären anwesend, sowie ein paar meiner Nachbarn, welche ich meiner Verlobten dann auch noch vorstellen werde.


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Das Tagebuch des Haytham E. Kenway - Die verlorenen Seiten Part 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt