Kapitel 22 - Der Spiegel Nerhegeb

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Als endlich auch die Zwillinge ins Bett gegangen waren, schlich ich mich in den Gemeinschaftsraum und traf auf Harry und Ron, die schon auf mich warteten. Ron machte ein finsteres Gesicht und schlang die Arme um sich, als wäre ihm jetzt schon kalt. Harry hingegen war voller nervöser Aufregung, die eindeutig auf mich abfärbte. Es fühlte sich an, als würde ein Niffler meinen Magen durchsuchen.

„Hallo", flüsterte ich und lächelte angespannt. Ich konnte es kaum abwarten, meine Eltern zu sehen. Diese Vorfreude wurde allerdings von dem Gedanken ausgebremst, der mir im Laufe des Tages gekommen war: Was wäre, wenn man uns entdeckte? Vermutlich würde man uns von der Schule werfen und dann könnte ich nirgendwo mehr hin. Die Malfoys wollten mich jetzt ja schon nicht mehr bei sich haben. Ich teilte diese Befürchtung den anderen beiden mit.

Harry warf einen kurzen Blick auf das Knäuel in seiner Hand, welches mir erst jetzt auffiel. Es war silbergrau und schien aus einem fließenden Stoff zu bestehen, der interessante Muster warf.

„Eleonora, ich sollte dir vermutlich ein paar Sachen erklären bevor wir losgehen. Aber bitte versprich mir, dass du es niemandem weitererzählst."

Was würde jetzt wohl kommen? Noch ein Geheimnis? „Einverstanden. Ich werde es niemandem erzählen. Solange ich nichts gegen das Gesetz getan habt." Letzteres kam mir aber nicht so wahrscheinlich vor, da sie es mir dann doch nicht einfach so erzählen würden, oder? Und außerdem hätte das ja nichts mit unserem Vorhaben zu tun. Es sei denn, Harry war ein Todesser und konnte sich in einen dunklen, fliegenden Schatten verwandeln. Aber auch das war wohl eher unwahrscheinlich.

„Wir werden nicht gesehen werden. Das hier ist ein Tarnumhang", erklärte Harry mir.

Zuerst begriff ich es nicht ganz, doch dann wurden meine Augen groß. „Was? Ein echter Tarnumhang?"

Harry nickte. Ich konnte ihn kaum glauben. Echte Tarnumhänge waren so selten und teuer, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ein elfjähriger Junge, der noch dazu bei Muggeln aufgewachsen war, an ein Exemplar gelangt war.

„Woher habt ihr ihn?", horchte ich ihn weiter aus.

„Er wurde mir von einem Bekannten meines Vaters zu Weihnachten geschenkt." Diese Erklärung kam mir merkwürdig vor. Soweit ich wusste, war Harrys Vater Auror gewesen, also war es sein Bekannter wohl ebenfalls. Und wieso sollte er den Umhang an einen Schuljungen weitergeben, obwohl er ihn in seinem Beruf wohl besser gebrauchen konnte? Das ergab für mich alles keinen Sinn. Allerdings ging ich nicht davon aus, dass Harry mir hier einen Drachen aufband. Er schien wirklich zu glauben, was er erzählte.

Mir erschien es aber deutlich wahrscheinlicher, dass ein fanatischer Harry Potter-Fan ihm den Umhang geschenkt hatte, warum auch immer der einen Tarnumhang besessen hatte.

Ron sagte zu Harry: „Zeig ihn ihr doch einfach mal, dann glaubt sie dir wahrscheinlich eher."

Der Schwarzhaarige warf sich daraufhin tatsächlich den Umhang über die Schultern und war ... tatsächlich verschwunden. Ich blinzelte, aber Harrys Körper tauchte nicht mehr auf. Sein Kopf, der jetzt in der Luft zu schweben schien, verkündete: „Er ist groß genug für uns drei. Wir müssen uns nur etwas kleinmachen."

„Heilige Heuschrecke! Ein echter Tarnumhang." Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen. Zögerlich griff ich nach Harrys Schulter oder zumindest an die Stelle, an der seine Schulter eigentlich wäre. Zuerst fühlte ich nichts, doch dann stieß ich auf Widerstand. Harrys Schulter fühlte sich knochig an, der Junge war ja auch mager wie ein Besenstil, und bedeckt von einem Stoff, der sich anfühlte wie Wasser. Die gleiche kühle Glattheit. Fast hatte ich sogar das Bedürfnis, mir die Hände abzutrocknen.

„Das ist echt verdammt interessant", befand ich. „Weißt du, welcher Zauber zur Herstellung verwendet wurde?" Harry machte ein ratloses Gesicht und sah hilfesuchend zu Ron, der die Augen verdrehte. „Himmel, Eleonora, du klingst ja fast schon wie Hermine!"

Verwundert bemerkte ich, dass er sie nicht Streber oder Granger nannte, wie er es vor wenigen Wochen noch getan hatte. Aber seit Halloween verbrachten Harry und er tatsächlich dauernd Zeit mit ihr, obwohl beide sie nicht gerade gemocht hatten. Ich freute mich für alle drei, denn ich hatte oft genug Lästereien über meine Zimmernachbarin gehört und – dafür schämte ich mich – auch selber mit Evangeline über sie geredet, wenn wir zu zweit gewesen waren.

Jedenfalls drängten Harry, Ron und ich uns unter dem Umhang dicht zusammen und liefen durchs Schloss. Wir begegneten niemandem außer Mrs Norris, die glücklicherweise aber zu sehr damit beschäftigt war, einer Maus die Gedärme herauszureißen, um uns bei Filch zu verpetzen. Harry brachte uns zuerst zielstrebig zur Bibliothek, von wo aus er dann zögerlicher weiterging, als wäre er sich des Weges doch nicht mehr so sicher.

Nachdem wir etwa dreimal in einen falschen Raum geplatzt waren und so ein leeres Klassenzimmer, den schlafenden Poltergeist Peeves, der laut schnarchend in der Luft hing und schließlich das Büro von Professor Flitwick gefunden hatten, öffnete Harry endlich die richtige Tür. Wir drängten uns schnell hinein, als Harry uns bestätigte, dass das der Raum von letzter Nacht gewesen war. Er war bis auf den riesigen, goldgerahmten Spiegel nahezu leer.

Harry riss sich den Umhang von den schmalen Schultern und eilte zum Spiegel. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, steuerte ich ebenfalls langsam auf ihn zu. Ron war nicht so feinfühlig, sondern stapfte einfach an mir vorbei und stellte sich so vor den Spiegel, dass ich kaum noch etwas davon sehen konnte.

„Siehst du sie? Schau doch mal, da ist mein Vater und da meine Mutter!", rief Harry begeistert.

„Ich sehe gar nicht, außer meinem normalen Spiegelbild", maulte Ron. Er war etwas schlecht gelaunt, weil ihm schon die ganze Zeit kalt war, was ich verstehen konnte. Auch ich fror an den Händen, die leider nicht von dem mit einem Wärmezauber belegten Pulli bedeckt waren. Ich ging um ihn herum, sodass ich seitlich von Ron und Harry stand, die beide begierig in den Spiegel starrten. Von meinem Standpunkt aus sah ich leider nur die spiegelnde Oberfläche. Harry trat etwas zur Seite, damit Ron jetzt direkt vor dem Spiegel stand. Anfangs sah er nichts und brachte seine Enttäuschung darüber auch laut zum Ausdruck. Doch dann trat zuerst ein überraschter Ausdruck in sein Gesicht, der sogleich träumerisch wurde.

„Ich ... ich sehe meine Familie nicht. Ich bin allein, aber ich sehe ... gut aus. Ich habe den Hauspokal und den Quidditschpokal in den Händen! Und ich bin Schülersprecher und Mannschaftskapitän! Wahnsinn!"

Ich war verwirrt und auch ein wenig enttäuscht. Wenn Ron seine Familie nicht sah, würde ich sie dann wohl sehen? „Glaubt ihr, dass der Spiegel die Zukunft zeigt?"

Harry schüttelte entschieden den Kopf. „Wie sollte das gehen? Meine ganze Familie ist tot."

„Wenn er dir die Vergangenheit zeigt, Harry, und dir die Zukunft Ron, dann zeigt er mir vielleicht die Gegenwart", überlegte ich laut.

Der Schwarzhaarige überdachte diese Möglichkeit. „Aber wieso? Warum zeigt er nicht mir meine Zukunft?"

Darauf hatte ich leider keine Antwort. Trotzdem hätte ich gerne meine Eltern im Spiegel gesehen. „Darf ich auch mal?", fragte ich daher.

Ron fiel es sichtlich schwer, sich von seinem Spiegelbild zu lösen. Die ganze Zeit – auch als er schon nichts mehr im Spiegel zu sehen schien – warf er ihm sehnsüchtige Blicke zu.

Doch jetzt war ich an der Reihe. Mein Herz schlug aus einer Mischung aus Aufregung und Angst schneller. Der eigentlich kurze Weg zum Spiegel kam mir wie eine Ewigkeit vor. Andererseits aber auch viel zu kurz, da ich wahnsinnige Angst davor hatte, nichts im Spiegel zu sehen. Um mich selbst zu beruhigen atmete ich einmal tief ein und aus. Dann trat ich vor den Spiegel.

Eleonora Black und der Verbotene Korridor ∥ Ⅰ ∥ AbgeschlossenWhere stories live. Discover now