Kapitel 38

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"Jack", versuchte er es erneut und schaute ihn eindringlich an. "Was machst du in diesem Rollstuhl?"

"Ach nichts. Ich dachte, mein Anzug würde darin besser zur Geltung kommen", meinte er schulterzuckend. "Und jetzt mach Platz. Ich habe keine Lust hier Wurzeln zu schlagen", wechselte Jack das Thema, in der Hoffnung, so aus dieser Situation zu entkommen.

Dan versperrte ihm den Weg nach vorne und zurück in den Saal wollte er beim bestem Willen nicht. "Jack", wiederholte Dan eindringlich. Über seine Schulter sah Jack, wie sich die Ersten zu ihnen Umdrehten und das Schauspiel beobachteten, das sich ihnen bot.

"Geh weg", blieb Jack standhaft, der nicht riskieren wollte, dass ihn noch mehr Menschen erkennen. Die Blöße konnte er sich nicht geben.

Ohne groß zu Überlegen holte er aus und boxte auf Dans Oberschenkel. Aus Reflex zog dieser sein Bein mit einem: "Au, sag mal spinnst du?" weg und ermöglichte Jack so, sich endlich aus dieser Tür zu befreien.

So schnell er konnte, brachte er sich in einer ruhigen Ecke der Lobby in Sicherheit vor den neugierigen Augen seiner ehemaligen MitschülerInnen. Es dauerte nicht lange, bis Dan ihn eingeholt hatte und wieder vor ihm stand.

"Jack, bitte. Erklär mir das", bat Dan eindringlich. Jack konnte ihm ansehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. Doch was würde es bringen? Ob Dan es nun wusste oder nicht, seine Situation blieb unverändert.

"Wie gesagt, ich dachte  das schmeichelt meinem Look." Jack macht sich nicht mal die Mühe so zu tun, als wäre das nicht gelogen. Dan würde von ihm keine Antwort bekommen und das sollte er ruhig wissen.

Genauso ernst gab Dan zurück: "Ich finde das nicht lustig." Das spärliche Licht lies nicht viel von Dans Gesichtsregungen erkennen, dafür aber jede von Jack. Seine Unterlippe zuckte. Hätte Dan nicht gesehen, dass sich seine Lippen bewegen, hätte er nicht gewusst, ob Jack wirklich spricht.

"Denkst du, mir ist zum Spaßen zumute?" Sie schauten sich in die Augen. Keiner wusste was er sagen sollte. Noch weniger wussten sie, wie sie miteinander oder der Situation umgehen sollten.

Jack sah die Sorge in Dans Augen und er hasste es. Mitleid und Sorge. Das waren die einzigen Gefühle, die er in den Augen seiner GesprächspartnerInnen sah. Seit diesem verdammten Unfall. Er hasste es so schwach und zerbrechlich zu wirken.

Wobei er sich nicht mehr sicher war, ob es nur seine Wirkung oder mittlerweile sein Wesen war. Früher zeigte Dan Angst in seiner Gegenwart und jetzt versteckte Jack sich in einer dunklen Ecke der Lobby vor ihm. Und vor der Wahrheit.

Im Hintergrund hörte Jack wie die Tür des Veranstaltungssaales geöffnet und wieder geschlossen wurde. Kurz darauf kamen Schritte in ihre Richtung. Die Frau, zu der die Geräusche gehörten, schaute beide skeptisch an, ging dann aber weiter Richtung Fahrstuhl.

"Wollen wir das nicht lieber woanders besprechen?", fragte Dan und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Frau. Es war verrückt Jack so in die Ecke gedrängt zu sehen, ohne dass er sich körperlich wehren konnte. Das war nicht der Jack, den er von früher kannte. Seine Art war zwar noch die selbe, aber er wirkte unvollständig. 

'Das' woanders besprechen wollte Jack ganz und gar nicht. Am liebsten würde er niemals darüber reden, nicht mal daran denken. Doch das schlug schon fehl, wenn er frühs nicht normal aufstehen konnte.

Trotzdem zuckte er gleichgültig mit den Schultern. So schnell würde er Dan sicher nicht wiedersehen und jetzt einfach zu gehen - nein, dafür war er nicht gekommen. Also folgte er Dan zum Fahrstuhl. Es war sicher nur nett gemeint, doch Jack hätte am liebsten losgeschrien als er merkte, dass Dan für ihn extra langsamer lief, die Türen aufhielt und den Knopf für seine Etage drückte.

Oben angekommen bewegten sie sich wortlos den Gang entlang bis Dan vor einem Zimmer stehenblieb und die Tür mit der Schlüsselkarte öffnete. Unweigerlich tauchten ähnliche Bilder vor Jacks geistigem Auge auf. Ihre letzte Begegnung fühlte sich für ihn an als wäre es erst gestern gewesen. 

"Willst du was trinken?", bot Dan verlegen an und deutete auf die Minibar. "Spinnst du? Das ist absoluter Wucher", empörte sich Jack. "Außerdem-" fügte er mit einem Grinsen hinzu, "-hattest du nicht schon genug?"

"Einen Drink heute Nachmittag", winkte Dan ab. "Moment mal", nachdenklich musterte er Jack. "Woher willst du wissen, wie viel ich heute getrunken habe?" Ausweichend schaute Jack sich im Zimmer um. Dan stand ihm noch immer gegenüber seit sie das Zimmer betreten hatten.

"Willst du dich nicht setzen?", lenkte Jack ab. Unbehaglich schaute Dan sich um, dann setzte er sich auf den Stuhl, der am Schreibtisch platziert war. So kam er nicht in die unangenehme Situation, einen Platz für Jack freizulassen, den er vielleicht nicht einnehmen konnte.

Von seiner neuen Pose aus suchte er erneut den Blickkontakt. Er versuchte mit seinen Blicken Antworten auf all die offenen Fragen zu finden. Warum war Jack hier? Warum dieser Rollstuhl? Warum sprach er mit ihm? Warum tauchte er nach all der Zeit wieder in seinem Leben auf?

Sein Blick wanderte Jacks Körper entlang und versuchte herauszufinden, was sich äußerlich an ihm geändert hatte. Er trug sein Haar kürzer. Es würde sicherlich an seinen Fingerspitzen kitzeln, wenn er hindurchfahren würde.

Seine Beine steckten in einer schwarzen Jeans, die lose saß und nicht viel zeigt. Seltsamerweise fragte Dan sich, ob es deutlich zu sehen sein würde, dass Jack seine Beine nicht mehr nutzen kann. Würde er mit bloßem Auge erkennen, dass diese Beine nie wieder selbstständig laufen würden?

Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Seine Fragen drehten sich nicht nur um Jack, sondern auch um ihn selbst. Warum wollte er Jack so unbedingt wiedersehen? Hatte er nicht alles, was er sich wünschen könnte? Wie konnte er hier mit Jack sitzen und darauf warten, was zwischen ihnen passieren würde, während sein Freund zuhause saß und sich genau darüber den Kopf zerbrach? Es war so unglaublich egoistisch von ihm.

"Also?", hakte Dan nach, um sich aus seinem eigenen Gedankenchaos zu befreien. "Mh?" Jack schüttelte gedankenverloren den Kopf. Offensichtlich war auch er gerade geistig ganz woanders. "Ich habe mittlerweile zwei unbeantwortete Fragen", erklärte Dan und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mehr als ein Kuss ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt