Kapitel 42

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Er war sicher, dass Jack es nicht zulassen würde, dass Dan ihn hineinhob. Aber was blieb dann noch? Konnte Jack das selbst? Dan hatte keine Ahnung. Um seine Unsicherheit zu überspielen, entsperrte er den Wagen, den er von seinen Großeltern zum bestandenen Abitur bekommen hatte.

"Dan", zog der Mann im Rollstuhl die Aufmerksamkeit auf sich. Seine Finger krallten sich so um die Armlehnen des Stuhls, dass seine Knöchel weiß hervortraten. "Was ist?", fragte Dan und hoffte, dass ihm jetzt erklärt würde, wie er ihn auf den Beifahrersitz bekam.

"Ich will nicht, dass du mich fährst", widersprach Jack noch einmal.

"Und ich will Antworten", gab Dan bissig zurück. Jack hob die Hand und zeigte Dan über seinen Rücken den Mittelfinger.

Dan musste sich wirklich beherrschen, nicht auszurasten. Zudem kämpfte er mit einem wilden Sturm verschiedener Gefühle, die seinen Körper einnahmen. "Schön, dass uns beiden so egal ist, was der andere will, oder?" Seine Stimme triefte nur so vor Ironie.

Ohne sich darum zu scheren, dass es Jack in eine unangenehme Situation bringen würde, öffnete er die Beifahrertür und schaute erwartungsvoll von Jack zu dem Sitz und zurück.

"Steig ein", forderte er, da Jack sich keinen Millimeter bewegt hatte. Feindselig schaute dieser ihn an. "Ich will nicht", zischte Jack. "Wie schon gesagt: Ist mir egal." Dan erkannte sich gar nicht wieder. Er war so ungehalten und wütend. Aber vor allem war er unzufrieden. So sollte es nicht laufen.

Aber vielleicht war es besser, als wenn es gut laufen würde. Also wirklich gut. Denn das würde dazu führen, dass alles andere in seinem Leben schlecht laufen würde.

"Wenn du nicht selbst einsteigst, hebe ich dich rein", drohte Dan, der darauf baute, dass Jack immer noch allergisch auf Körperkontakt mit ihm in der Öffentlichkeit reagierte.

"Das ist Erpressung", beschwerte Jack sich. Er hasste es, so in die Enge getrieben zu werden. "Ja", bestätigte Dan knapp und beugte sich zu Jack, um ihn hochzuheben. Wütend schlug dieser seine Hände weg. "Ist ok, ich mach ja schon", ergab sich Jack missmutig.

"Schau weg", wies er Dan an und fuhr seitlich neben das Auto. Dem Angesprochenen entfuhr ein verwirrtes: "Was?"

"Ich steige ein, aber ich will nicht, dass du mir dabei zusiehst", drückte Jack sich anders aus, in der Hoffnung, dass Dan es so verstand. "Ist schon klar, aber ich verstehe nicht warum", erklärte Dan.

"Bist du so dumm oder tust du nur so?", fragte Jack und stöhnte danach genervt aus. Um sich zu beruhigen, lenkte Dan seine Aufmerksamkeit auf den Autoschlüssel, der noch immer in seiner Hand ruhte. Ein paar Mal klappte er den Schlüssel ein und aus, bevor er sich wieder an Jack wandte. "Was ist dein Problem?"

"Ist das nicht offensichtlich?", fragte Jack, in dessen Stimme ein Hauch von Verzweiflung mitschwang. Hauptsächlich klang er jedoch wütend.

"Erkläre es mir doch einfach", forderte Dan, dessen Geduld am Ende war. Er wollte endlich, dass Jack einstieg, damit sie - Er wusste selbst nicht genau, warum er es plötzlich so eilig hatte. Vielleicht wollte er einfach ein Ende der Situation herbeiführen, um endlich zu dem Teil zu kommen, in dem Jack ihm all seine Fragen beantworten würde.

Wenn es nur so einfach wäre.

Stattdessen musste er zusehen, wie Jack vor seinen Augen kehrt machte und zurück in Richtung Hotel wollte. Mit zwei großen Schritten hatte er ihn eingeholt und gestoppt. "Verdammt!", schrie Jack auf und schlug mit den Händen auf die Räder seines Rollstuhles. Sein Körper bebte.

Dan verstand gar nichts mehr. Außer, dass es absolut nichts brachte, Jack in die Enge zu treiben. Das hatte sich nicht geändert. Und wenn er nicht schleunigst damit aufhörte, würde der Abend garantiert kein gutes Ende mehr nehmen.

Etwas ruhiger ging er um Jack herum, kniete sich vor ihn, um auf Augenhöhe zu sein und griff nach seiner Hand. "Nein!", schrie Jack wieder und entriss ihm seine Hand. "Hör endlich auf damit! Ich ertrage das nicht!"

Mehr denn je sehnte Dan sich nach zuhause, einem warmen Bett und Ruhe. Vor allem Ruhe.

Er war mit seinem Latein am Ende. Er hatte keine Ahnung, was er noch tun konnte. Er war restlos überfordert. So kannte er Jack nicht und es tat weh ihn so zu sehen. Zu sehen, dass er ihn nicht im Griff hatte, die Situation nicht und sich selbst erst recht nicht, war ungewohnt.

"Lass uns eine rauchen", schlug er vor. Es hatte den Eindruck gemacht, als würde es Jack beruhigen und das war gerade bitter nötig. Fast hätte Dan erleichtert aufgeseufzt, als er sah, dass Jack die Schachtel aus seiner Tasche zog und in seinen Schoß fallen ließ, nachdem er hatte, was er wollte.

Das Feuerzeug flammte auf und kurz danach schwebte der Geruch von Nikotin durch die Luft. "Du solltest gehen", murmelte Jack ohne Dan anzusehen. "Haben wir das nicht schon zu genüge probiert?", gab Dan lakonisch zurück. Als Antwort bekam er nur ein Schulterzucken.

"Bitte hilf mir, dich zu verstehen", bat Dan leise. Er hatte Angst, ihn mit jedem weiteren Wort zu verschrecken. Ungerührt nahm Jack einen weiteren Zug. Und dann noch einen. Bis Dan ihm die Zigarette aus der Hand nahm.

Wütend funkelte Jack ihn an. Er versuchte nach der brennenden Zigarette zu greifen, doch Dan streckte sie über seinen Kopf. Triumphierend sah er zu Jack runter.

"Musst du mich so demütigen?", kam langsam über Jacks Lippen. 

Verwirrt ließ Dan den Arm sinken, als ihm bewusstwurde, wie unfair sein Verhalten war. Natürlich würde Jack nicht einfach aufstehen können und sich zurückholen, was ihm gehörte. Er würde es nie können und Dan hatte das ausgenutzt.

Als Entschuldigung bot er Jack die Zigarette wieder an.

"Machts Spaß mich zu erniedrigen?" Angriffslustig hob Jack den Kopf und schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen. "Ich-", setzte Dan an, doch wurde sogleich unterbrochen.

"Gibt es dir einen Kick mich am Boden zu sehen? Stehst du darauf?" Verwirrt blinzelte Dan, doch kam wieder nicht zu Wort. "Ist es nicht eine Genugtuung zu sehen, dass ich alles, was ich dir angetan habe, zurückbekommen habe?"

"Willst du deswegen mit mir reden? Um zu hören, wie schlecht es mir geht? Um dich an meinem Leid zu ergötzen? Gefällt es dir zu sehen, wie ich leide? Dann schau gut hin." Jack breitete die Arme aus.

"Schau dir an, was aus mir geworden ist. Ich bin ein verdammter Krüppel." Zittrig holte er Luft, bevor er fortfuhr. "Ich bin nutzlos. Nicht mal mein Körper funktioniert noch. Ich bin auf Hilfe angewiesen. Ich muss mich immer unterordnen, ich muss bitten, ich muss warten, ich muss 'Danke' sagen." Frustriert fuhr er sich durch die Haare.

"Und du hast die Nerven zu fragen, warum ich nicht will, dass du mir dabei zusiehst, wie ich die tote Hälfte meines Körpers, mit aller Kraft in dein Auto hieve?" Jacks Körper bebte. Sein Blick sprach Bände. Über Schmerz und all die Dinge, die er noch sagen könnte. Aber er hatte Angst. Das alles auszusprechen, machte ihm die Wahrheit nur umso schmerzlicher bewusst.

Dan war überrumpelt von diesem traurigen, doch so ehrlichen Ausbruch von Jack. Trotz allem was zwischen ihnen war, tat es ihm unglaublich weh, Jack so zu erleben. Das hatte er nicht verdient. Aber er konnte ihm nicht helfen. Es gab nichts zu sagen oder zu tun, dass die Tatsache ändern könnte, dass Jack auf einen Rollstuhl angewiesen war.

In der Hoffnung, dass es das Richtige war, griff Dan in Jacks Schoß und nahm die Zigarettenpackung, inklusive Feuerzeug heraus. "Ich werde jetzt Eine rauchen und wenn ich damit fertig bin, können wir losfahren. Wartest du so lange im Auto?" Demonstrativ drehte Dan dem Auto den Rücken zu.

"Du musst dann aber dieses Gestell verstauen", lenkte Jack glücklicherweise ein. "Ich weiß. Gibt es dabei was zu beachten?", erkundigte sich Dan mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Er hatte es geschafft.

"Ich erkläre es dir dann", legte Jack fest und entfernte sich von Dan, der sich seine Zigarette anzündete.

"Man tut das gut", flüsterte er erleichtert in die laue Nachtluft.

Mehr als ein Kuss ~ boyxboyWhere stories live. Discover now