Kapitel 74

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Mit wackeligen Knien, bei denen er nicht wusste, ob sie der Aufregung oder dem schlechten Gewissen geschuldet waren, drückte Dan die silberne Klingel, die ein lautes Schellen von sich gab.

Er wartete nicht mit einer sofortigen Reaktion, weshalb ihn das Knistern der angeschalteten Gegensprechanlage überraschte. "Ja?", ertönte Jacks Stimme mürrisch am anderen Ende. Zu wissen, dass er sich nur ein paar Stockwerke über ihm befand und mit viel Glück den Rest des Wochenendes an seiner Seite, lies Dan nervös von einem auf den anderen Fuß treten.

"Hey." Das Wort fühlte sich an, als würde es mehrere Minuten dauern, bis es vollständig über seine Zunge gerollt war. Die andere Seite blieb still, obwohl Dan sich sicher war, dass Jack ihn erkannt hatte.

Ein leichter Windhauch strich über Dans freie Arme. Er versuchte einen Gedanken zu fassen, der ihm helfen würde, sein plötzliches Auftauchen zu erklären. Doch es gab keinen rationalen Grund. Jeder kleine Schritt, der ihn hier hergeleitet hatte, war emotional.

Das ließ sich nicht an einer fremden Haustür einer Gegensprechanlage erklären. "Lässt du mich rein?", formte sich schlussendlich. Mit mehr konnte er nicht aufwarten. Ein erleichtertes Seufzen konnte er sich nur knapp unterdrücken, als der Summer ertönte und er die Tür öffnen konnte.

Viel zu schnell lief er auf den Aufzug zu und drückte den Knopf so oft, bis die Türen schlussendlich aufgingen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass er nach der Autofahrt ziemlich geschafft aussah. Es hatte also nichts gebracht, sich vorher zurechtzumachen. Ob Jack es überhaupt bemerkt hätte?

Als die Fahrstuhltüren auseinanderglitten, sah er Jack bereits an seiner offenen Wohnungstür warten. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Dans Lippen. Wenn er sich nur richtig anstellte, könnte er dieses Wochenende alles bekommen. Er könnte Jack bekommen.

"Hey", begrüßte er ihn zum zweiten Mal und nickte dabei leicht. Jack, der die Wohnungstür mit einer Hand offenhielt, bewegte sich nicht vom Fleck. "Was machst du hier?", fragend legte er den Kopf zur Seite.

"Lässt du mich rein?", wiederholte Dan genau die Worte, die er gerade noch an der Haustür gesagt hatte. Fast kam er sich lächerlich vor.

Trotz skeptisch hochgezogener Augenbraue lies Jack ihn eintreten und fuhr in die schmale Küche. Er platzierte sich an einer Seite des Tisches, der gegenüber ironischerweise tatsächlich ein Stuhl stand. Und dabei könnte Dan schwören, dass außer ihm niemand mehr hierherkam.

"Was machst du zwischen jetzt und Abend?", fragte Dan, der die ganze Aktion nur auf gut Glück geplant hatte. Jetzt würde sich zeigen, ob das Schicksal für oder gegen sie war.

Jacks verwirrter Blick wandelte sich zu einem sarkastischen Lächeln. 'Als hätte ich etwas vor', war seinem Blick mehr als deutlich abzulesen. Ein gutes Zeichen.

"Du wirst mich gleich für verrückt halten", setzte Dan an, den die Aufregung überkam. Er wollte das hier so sehr.

"Ich kann dir versichern: Das tue ich jetzt schon", feixte Jack. Ungeduldig winkte Dan ab.

"Hast du dich je gefragt 'Was-wäre-wenn'?" Die Neugier breitete sich wie ein Lauffeuer in seinem Körper aus. Es war waghalsig Jack einfach so etwas zu fragen. Er riskierte alles, aber genau dieses Risiko gab ihm ein lang verloren geglaubtes Gefühl zurück.

"Was soll das Dan?" Seine Stimme klang kalt. Seine Haltung wurde abwehrend. Und doch wusste Dan, dass das kein Gesprächsende bedeutete. Wieder ein kleiner Sieg.

"Bitte Jack, antworte einfach", drängte er ihn. "Wieso sollte ich?" Dan, der sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, sich hinzusetzten, machte einen Schritt auf Jack zu. Er stützte seine Hände auf den Armlehnen von Jacks Rollstuhl ab.

Langsam lehnte er sich zu ihm nach vorne und fixierte seine Augen mit einem durchdringlichen Blick. "Hast du dich je gefragt 'Was-wäre-wenn'?" Jedes Wort kam langsam und deutlich über seine Lippen. Er musste es wissen.

Resigniert atmete Jack aus und ließ seine Abwehrhaltung fallen. Er gab sich einfach so geschlagen. Innerlich jubilierte Dan. Er hatte wirklich eine Chance. Jack hatte es sich gefragt.

"Was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass wir es herausfinden können?" Jack begegnete Dans aufgeregtem Grinsen mit einem überraschten Blick. "Sag endlich, was du willst", forderte Jack. Das winzige Glitzern in seinen Augen entging Dan dabei nicht.

"Wir haben das ganze Wochenende Zeit, um herauszufinden, wie es gewesen wäre. Es ist alles gebucht. Du musst nur Ja sagen", erklärte Dan, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Er wollte nur ein 'Ja' von Jack. Er wollte dieses Wochenende mit ihm.

"Was ist mit deinem Mann?", hinterfragte Jack misstrauisch. Das schlechte Gewissen ergriff erneut Besitz von Dan. Er konnte nicht verstehen, wie er Oliver so etwas antat, aber dabei so, nun ja, glücklich war.

"Er ist nicht mein Mann", korrigierte Dan ihn automatisch. "Und er ist nicht hier. Und ich bin das Wochenende bei meiner Mutter", gab er seine Lüge zu. Er belog seinen Freund, um ihn mit Jack zu betrügen. Er war abscheulich. Wirklich und wahrhaftig abscheulich.

"Bitte Jack. Gib uns dieses Wochenende. Nur wir beide, nichts sonst. Kein Freund, keine Verpflichtungen, kein Alltag, keine Welt um uns herum. Ich will nur dich." Seine Stimme glich einem Flüstern. Er steckte alle Hoffnung hier rein.

Seine rechte Hand löste sich von der Armlehne und erhob sich, um Jack sanft über die Wange zu streichen. Gleichzeitig beugte er sich ein Stück zur Seite, sodass er mit seinen Lippen fast Jacks Ohr berührte.

"Sag ja." Die Gänsehaut auf Jacks Nacken folgte augenblicklich. Erneut strich er mit seinem Daumen über Jacks Wange und dann hörte er es: "Ja."

Mehr als ein Kuss ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt