Kapitel 71

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Spontan zuckte Dan die Schultern. Ihm war bewusst, dass Jack dachte, Dan würde sich als geeigneten Heiratskandidaten einschätzen.

Doch das würde er nicht sagen.

Er wusste nicht Mal, ob er sich Jack überhaupt jemals als den Ehemann von irgendjemandem vorstellen könnte. Und erst recht würde Jack nie einen Mann heiraten, denn er war ja nicht schwul. Das könnte er sich schließlich nicht mehr vorlügen, wenn er mit einem Mann verheiratet wäre.

"Jemand, der es lange genug mit dir aushält", antworte Dan. Jacks harter Blick ließ ihn seine Aussage jedoch sofort erklären: "Wegen deines Charakters meine ich."

Jack schien ihm nicht zu glauben. Dan würde es sicher leichter fallen ihn zu verstehen, wenn er die Hintergründe von Jacks Lähmung kennen würde. Wie kam es dazu? Und was konnte er dagegen tun, dass Jack sich deshalb anscheinend noch mehr hasste?

"Bitte sag mir, was passiert ist", bat Dan. Sie konnten doch nicht einfach kein Wort darüber verlieren.

"Nein", schmetterte Jack seine Bitte ab, ohne mit der Wimper zu zucken.

"Jack", beschwerte Dan sich. Er hatte ja nicht mal darüber nachgedacht.

"Nein."

"Bitte", versuchte Dan es weiter, auch wenn er sich keine hohen Chancen ausmachte.

"Nein", sagte Jack, als wäre es völlig abwegig, dass eine Bitte von Dan ihn umstimmen würde.

"Ich habe so viele Theorien, was passiert ist und es macht mich verrückt, keine Klarheit zu haben", erklärte Dan.

"Dein Problem." Damit drehte sich Jack von ihm weg und verließ den Flur. Dan folgte ihm und erkannte, dass sie in die Küche gingen.

"Davon, dass du mich einfach stehen lässt, höre ich nicht auf zu fragen", teilte Dan Jack mit. Es überraschte ihn selbst, dass er sowas zu Jack sagen konnte. Normalerweise ließ er Themen ruhen, wenn Jack sie beendet hatte.

"Solltest du aber."

"Mache ich aber nicht", widersprach Dan. "Soll ich raten?", schlug Dan vor.

"Sag mal was verstehst du nicht an Nein?", fauchte Jack ihn an.

"Hattest du einen Unfall?", nannte Dan seine wahrscheinlichste Theorie.

"Willst du, dass ich dich rausschmeiße?", drohte Jack mit gepresster Stimme.

"Ist es durch eine Krankheit? Bist du deshalb damals abgehauen, weil du wusstest, dass das früher oder später passieren würde?", versuchte Dan es mit den weniger wahrscheinlichen Alternativen.

"Bist du noch ganz klar im Kopf?", schleuderte Jack ihm entgegen.

"Wirst du sterben?" Vielleicht war es unwahrscheinlich, aber Dan musste einfach ein Nein hören, damit er diese Angst loswerden konnte. Jack schaute ihn nur an und Dan zog auffordernd die Augenbrauen nach oben.

"Ja", sagte Jack schließlich. Obwohl sie sich seit Jahren nicht gesehen haben und auch nie eine wirklich liebevolle Beziehung zueinander hatte, erschütterte Dan diese Antwort bis ins Mark. Tränen stiegen ihm in die Augen durch den Schock.

Das konnte nicht wahr sein. Er hatte ihn doch gerade erst wiedergefunden. Egal, wie glücklich er mit Oliver war, Jack war der erste Mann, den er geliebt hatte und diese Gefühle würden wahrscheinlich nie weggehen. Ob sie zusammen waren oder nicht.

Und jetzt sollte er Jack endgültig verlieren? Wieso war das Schicksal gegen sie und dann auch noch auf so eine grausame Art?

War Jack deswegen zu dem Klassentreffen gekommen - um ihn ein letztes Mal zu sehen? Vielleicht sollte Dan sich von Oliver trennen und bei Jack einziehen, um ihm die letzten Tage beizustehen.

Verzweifelt ließ sich Dan vor Jacks Rollstuhl auf die Knie sinken und ergriff seine Hände. Was war genau mit ihm los? Wie lange würde er noch haben?

Dan vergrub sein Gesicht in Jacks Händen, die auf seinem Schoß lagen.

Als Jack spürte, dass seine Hände feucht wurden, zog er sie weg. "Man, bist du eine Memme."

Mit tränenfeuchten Augen schaute Dan zu ihm auf. "Du hast gesagt, dass du sterben wirst", rief er ihm ins Gedächtnis. Wenn nicht mal das ein Grund zum Weinen war...

"Und deswegen heulst du?"

"Offensichtlich!"

"Du hast doch noch deinen Mann", warf Jack ein.

"Er ist nicht mein Mann." Dan funkelte ihn wütend an. "Und das ist was anderes", gab er leise zu.

"Inwiefern?", fragte Jack nach.

"Na ja", druckste Dan herum. "Er ist nicht du", sagte er leise.

"Ach was", sagte Jack mit ironischem Tonfall. "Du bist wirklich ein Idiot."

Jacks Unverschämtheit hatte Dans Tränen längst getrocknet. "Warum bin ich denn jetzt ein Idiot? Weil es mich zum Weinen bringt, dass du sterben wirst? Das macht mich nicht zum Idioten, sondern lediglich nicht zu so einem gefühllosen Klotz wie dich."

"Ich werde genauso sterben wie du und alle anderen Menschen auf diesem Planeten", sagte Jack schlicht.

"Wie meinst du das?", fragte Dan verwirrt.

"Deine Frage war: Wirst du sterben? Natürlich werde ich das. Irgendwann. So wie alle Menschen. Auch wenn du manchmal an meiner Menschlichkeit zweifelst, unsterblich bin ich nicht", erklärte Jack.

"Willst du damit sagen, du hast mich nur verarscht?", machte es bei Dan Klick.

"Ich habe dir gesagt, du sollst mit deiner Fragerei aufhören", sagte Jack als wäre das Erklärung und Entschuldigung in Einem.

"Du bist sowas von gestört!", rief Dan fassungslos. Er weinte, weil er dachte, Jack würde nicht mehr lange leben und der erlaubte sich nur wieder einen seiner kranken Scherze.

"Ich habe dir eine einzige verdammte Frage gestellt und dir gibt es einen Kick mich weinen zu sehen, weil ich denke, du stirbst!", fuhr Dan ihn an.

"Es ist immer wieder dasselbe mit dir! Jedes verdammte Mal! Du hast dich kein bisschen verändert. Du bist noch genau das erbärmliche Arschloch, dass sich vor vier Jahren feige verpisst hat." 

Es hatte Dans Emotionen so verrücktspielen lassen, dass er dachte, Jack würde sterben, dass er sich noch nicht wieder ganz im Griff hatte und nun alles aus ihm herausplatzte.

"Dass du im Rollstuhl sitzt, ist schlimm, aber ich fände es noch viel grausamer, wenn ich deinen Charakter hätte. Ich hätte alles für dich getan und du hast nichts weiter gemacht, als mich psychisch so zu zerstören, dass ich am Ende war, als du gingst. Und du hast dich nicht einmal entschuldigt!"

Dan stand auf. Heiße Wut flutete seinen Körper, sodass er sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Es hatte doch alles kein Sinn. Wie oft hatte Jack ihm schon gezeigt, dass es zwischen ihnen nichts werden würde. Er hatte ihn immer und immer wieder nur enttäuscht.

"Ich bin wirklich ein Idiot, weil ich die Hoffnung nie aufgegeben habe, weil ich nie aufgehört habe, an dich zu glauben. Du hast nichts davon verdient." Frustriert schüttelte Dan den Kopf.

Was tat er überhaupt hier? Er sollte zuhause sein! Bei Oliver.

Er warf einen Blick auf Jack. Selbst wenn er nie aufhören würde, ihn zu lieben, konnte er sich nicht nochmal kaputt machen lassen. Also drehte er sich um und ging mit großen Schritten durch den Flur.

Hektisch zog er seine Schuhe an.

"Dan", versuchte Jack ihn aufzuhalten - sehr zu seiner Überraschung.

"Und weißt du was? Man kann mich lieben! Nur du bist anscheinend nicht fähig dazu und deswegen wirst du, wenn du wie alle anderen auch irgendwann stirbst, völlig allein dabei sein", sagte Dan sauer und hoffte, dass es Jack wenigstens ein bisschen treffen würde.

Und dann ging er einfach zur Haustür, öffnete sie, ließ sie hinter sich ins Schloss krachen, nahm die Treppen nach unten, tat mit der Haustür dasselbe wie mit der Wohnungstür, stieg in sein Auto und fuhr los.


Mehr als ein Kuss ~ boyxboyWhere stories live. Discover now