"Hilf ihr"

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Nick:

Ich hob meine Hand, um an die Zimmertür zu klopfen, hinter welcher Ophelia lag. Dann wurde die Tür von innen geöffnet. Ich trat erschrocken einen Schritt zurück und machte Kate Platz. Was machte sie hier? 
Sie hielt den Blick gesenkt. Ihre Haare bildeten einen glänzenden Vorhang, der ihr Gesicht versteckte. 
Sie stockte, als ihr Blick auf meine Schuhe fiel und hob den Blick. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Scheiße...
Was ist passiert?!
Sie sah furchtbar aus. Natürlich war sie immer noch wunderschön, aber ihr Gesicht war blass. Sie war so weiß, wie ich. Ihre Augen waren gerötet und eine nasse Spur auf ihrer Wange verriet, dass sie geweint hatte. 
"Was machst du hier?" 
"Ich habe nach Ophelia gesehen." Mit wieder gesenktem Blick ging sie an mir vorbei. 
Kurz war mir entglitten, warum ich eigentlich hier war. Kate brachte mich immer gehörig durcheinander. 
"Ist sie wach? Was hat sie gesagt?" Ich ging zur Tür und öffnete sie. Dahinter fand ich einen leeren Raum vor. Mein Herz sackte zwei Etagen tiefer. Was zum...? Erschrocken blickte ich zu Kate. 
"Sie hat mir die Übersetzung gegeben und ist dann verschwunden." 
Etwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Meine Kopfhaut begann zu kribbeln, als ich Kate noch einmal betrachtete. Sie war vollkommen neben der Spur. Langsam, damit ich sie nicht erschrecke, trat ich vor sie und wischte die Spur ihrer Träne weg. "Was ist passiert?" Ich machte mir wirklich Sorgen um sie. Was bedeutete diese Prophezeiung? Was konnte so extrem sein, dass es Kate so aus der Bahn wirft? "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." 
Ihre Augen weiteten sich kurz und dann errichtete sie wieder eine Mauer. Schockiert und gleichzeitig fasziniert sah ich dabei zu, wie sie mich ausschloss. 
"Nick, ich kann jetzt nicht reden. Sonst vergesse ich die Übersetzung noch." Sie lachte kurz. Aber dieses Lachen hatte in keinster Weise etwas mit dem von herzenkommenden Lachen zutun, dass ansonsten aus ihrem Mund kam. Sorgen schnürte mir beinahe die Kehle zu. 
Äußerst widerwillig ließ ich sie gehen. Ich lauschte ihren Schritten, die erst in normalen Tempo widerhallten und dann plötzlich verdammt schnell wurden. 
"Alexander?", fragte plötzlich eine Stimme hinter mir. Langsam drehte ich mich um und sah die Krankenschwester auf mich zu kommen. 
"Ms. Evans" Prüfend sah ich sie an. Was wollte sie von mir? Und warum nannte sie mich Alexander? Allein meine Familie nannte mich bei meinem dritten Vornamen. 
"Hilf ihr!" Ihre Stimme war nicht ihre eigene. Das fiel mir nun erst auf. Die Stimme klang viel viel älter, als die dünne und ruhige Stimme der Krankenschwester. 
Es war als hätte mir jemand mit voller Wucht in die Magenkuhle geschlagen. 
"Was...? Wem?" 
Ms. Evans verdrehte die Augen so sehr, dass lediglich das Weiße zu sehen war. 
"Hilf ihr..." Die Stimme kam nun nicht mehr aus dem Mund der Krankenschwester. Es war als würde dieses Flüstern den gesamten Raum erfüllen. Meine Haut prickelte von der Macht, die mit dem Flüstern einherging. 
Dann sackte die Krankenschwester zusammen. Erschrocken sprang ich nach vorne und fing sie auf. Ihr Kopf ruhte an meiner Brust, während ich versuchte sie aufzurichten. 
Vorsichtig klopfte ich gegen ihre Wangen um sie aufzuwecken.
"Ms. Evans?" 
Ihre Augenlider flatterten und sie öffnete die Augen.
"Niklas?", fragte sie verwirrt und befreite sich aus meinem Arm. "Was ist passiert?"
"Sie wollten mit mir sprechen, sind aber dann ohnmächtig geworden."
Verwirrt sah sie sich um. Dann nickte sie. "Danke, für's Stützen."
Ich nickte und lächelte so überzeugend ich konnte. Wie konnte sie sich nicht mehr an unser Gespräch erinnern?
Meine Gedanken kreisten um das 'Hilf ihr'. Wem denn? Wem musste ich helfen?
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Kate. 
"Ich muss weg.", sagte ich zu Ms. Evans, die inzwischen wieder alleine stehen konnte.
Ich rannte unten in die Eingangshalle als ich Mr. Collins knurren hörte: "Williams, was zum Teufel war das? Du hast ihr eine Scheißangst eingejagt!" Ich versteckte mich in einer dunklen Ecke neben den Lehrerbüros und duckte mich in die Dunkelheit. Wut durchzuckte mich wie ein Blitz. Wie konnte Collin so rücksichtslos sein und Kate auch noch Angst einjagen? Hat er denn nicht gesehen, dass es ihr miserabel geht?
Dann kommt mir Kate auch schon entgegen. Ihre Augen haben immer noch diesen gehetzten Ausdruck, als würde sie verfolgt werden und müsste um ihr Leben bangen.
Anstatt die Schlafräume anzusteuern ging Kate geradewegs nach draußen und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Auf Zehenspitzen folgte ich ihr. Ich musste einfach mit ihr sprechen. 
"Eingangshalle.", antwortete sie ihrem Anrufer.
Sie wartete darauf, was der Anrufer sagte. "Es ist alles in Ordnung, Emily. Leg' dich schlafen. Ich bin auch bald oben." Ihre Stimme hörte sich zwar aufrichtig an, aber ihr Gesicht sprach eine vollkommen andere Sprache. Gar nichts war in Ordnung. 
"Ja, vertrau' mir, Em."
Auf das Gesagte von Emily tritt tatsächlich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ein kleines zwar, aber es erhellt ihr Gesicht. "Mach' ich. Schlaf gut." 
Sobald sie aufgelegt hatte, sah ich nur noch einen dunkelblauen Blitz. Sie sprintete über das Schulgelände und dann in den Wald. 
Kurz überlegte ich, ob ich ihr auch jetzt noch folgen sollte. Meine Vernunft sagte mir, dass ich es sein lassen sollte. Aber mein Herz sagte mir, dass sie nicht alleine sein sollte. 
Mit reichlich Abstand folgte ich ihr. Weder war sie in meinem, noch ich in ihrem Blickfeld. Aber ihr Geruch leitete mich zu ihr. An manchen Stellen war ihr Geruch zu intensiv. Instinktiv wurde ich langsamer. Kleine Tropfen ihres Blutes klebten an einigen Zweigen. 
Scheiße... Sie war verletzt.
Tief in mir drin wusste ich, dass sie es mit Absicht tat. Sie ließ es absichtlich zu, dass die Bäume ihr Wunden zufügten. Sie konnte auch in der Dunkelheit ohne Zweifel jeglichen Zweigen und Ästen ausweichen, die ihr in den Weg hingen, aber die tat es nicht. Mein Herz zog sich unangenehm zusammen. Mitleid und Sorge ließen meine Schritte schneller werden. 
Ich nahm ihre Spur wieder auf und folgte ihr weiter. 

Ein dumpfer leiser Knall ließ mich wiederum anhalten. 
Dann sah ich sie auf dem Boden liegen. Ihre Haare waren nach vorne geweht und schirmten ihr Gesicht ab. Sie lag am Boden und zitterte am ganzen Leib. Mein Herz wurde schwer. 
Langsam setzte sie sich auf. Bemerkte mich aber immer noch nicht. 
Wenn sie mich schon nicht bemerkte, würde sie auch sonst niemanden bemerken, der ihr eventuell etwas anhaben könnte. Mein Beschützerinstinkt ging mal wieder mit mir durch.
Als sie sich aufsetzte, setzte ich mich ebenfalls hin. Ihre helle Haut schien im Mondlicht wie Alabaster. 
Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und begann zu weinen. 
Nein, weinen war zu wenig. Sie schien vollkommen aufgelöst und verzweifelt. 
Was hatte diese Weissagung denn prophezeit, dass es sie so mit nahm? 
Sie weinte leise. Ihre Hand auf dem Mund sollte anscheinend die Schluchzer oder Schreie unterdrücken. 



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