Die Wahrheit

858 38 10
                                    

    Nick:
Ich drehte mich nicht zu ihr um. Mein Gewissen zeterte in meinem Kopf und verlangte, dass ich Kate endlich die Wahrheit sagen solle.
Ganz deutlich konnte ich den fragenden Blick ihrer großen Augen auf meinem Rücken spüren. "Nick, was ist los, dass du es mir nicht sagen kannst? Dass du es keinem von uns sagen willst oder kannst?"
Ich drehte mich zu ihr um. Ihr Blick wanderte über mein Gesicht. Ich wusste nicht, was sie darin suchte, aber was sie fand gefiel ihr offenbar nicht. Sie sackte etwas in sich zusammen. Erkenntnis leuchtete in ihren Augen auf. Plötzlich sahen ihre Augen mich nicht mehr fragend, sondern traurig wissend an. Mein Herz zog sich zusammen.
"Vergiss es." Sie zog ihre Jacke enger um ihren Oberkörper. Ein typischer Schutzmechanismus von ihr. Das kannte ich schon. "Ich geh' lieber." Sie wandte sich zur Tür und war schneller draußen, als ich hätte reagieren können.
'Nein!', schrie meine innere Stimme so laut, dass meine Ohren förmlich klingelten. Ich löste mich aus meiner Starre und rannte ihr hinterher. Als ich sie eingeholt hatte, packte sie schon beinahe grob am Arm und zog sie zurück in mein Zimmer. Sie wehrte sich, warf mir Flüche an den Kopf, aber ihr ließ sie nicht los. Einiges war Tea-caíth und obwohl ich die Sprache nicht verstand, konnte ich erahnen, dass es wohl nicht gerade etwas sehr Nettes war, was sie sagte.
Sobald sie wieder in meinem Zimmer stand, schloss ich die Tür hinter uns und verriegelte sie. Kate sah mich mit großen Augen an und wich einen Schritt zurück. Unter ihrer Jacke sah ich, wie sich ihre Muskeln zur Verteidigung anspannten.
"Ich will nicht direkt mit dir streiten." Ich lehnte mich gegen die Tür, wie sie es vorhin getan hatte, und atmete tief durch. "Du musst mich nur bitte ausreden lassen."
Gott allein wusste, wie oft ich diesen Satz schon zu ihr gesagt hatte.
"Dann erklär's mir endlich!" Ihre Stimme wies eine solche Dringlichkeit auf, dass ich eine Gänsehaut bekam.
„Meine Familie hat einen Auftrag." Die Worte kamen aus meinem Mund ehe ich es verhindern konnte. Wieso hatte ich das gerade gesagt?
„Was?" Kate wich einen weiteren Schritt zurück.
„Meine Familie ist schon ewig in der Bildung tätig."
„Nick, ich schwöre bei Gott, wenn du nicht bald klar antwortest, haben wir uns zum letzten Mal geküsst!"
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zuckten. Sie hatte eindeutig gute Argumente. Ohne dass ich es wollte wanderte mein Blick zu ihren Lippen. Ich schüttelte kurz den Kopf um meine Fassung wieder zu bekommen.
„Können wir uns setzen?" Ich deutete auf die Couch und Kate setzte sich ohne den Blick von mir zu lösen. Ihre Augen schienen direkt in meine Seele zu schauen. Sie versuchten mir jegliche Geheimnisse zu entlocken. Konnte ich ihr alles erzählen? Konnte ich es wagen ihr alles zu erzählen? Collin wird unendlich sauer auf mich sein. Und wahrscheinlich meine Eltern auch.
‚Aber Kate muss dir vertrauen können.', erinnerte mich meine innere Stimme. ‚Du musst ihr helfen. Du hast doch gehört, was die Stimme gesagt hat.'
Hilf ihr...
Der Klang der uralten Stimme hallte in meinem Kopf wider. Ich hatte nie an diese Bestimmung meiner Familie geglaubt. Aber konnte ich es wirklich wagen sie so zu hintergehen? Sie würden es wohl oder übel irgendwann erfahren. Sie würden mitkriegen, dass ich entgegen unserer Bestimmung gehandelt habe. 
Ich ließ mich auf die Couch neben Kate fallen und drehte mich etwas, damit ich sie direkt ansehen konnte. Sorge trat in ihre Augen.
Und dann erklärte ich ihr alles. Ich ließ nichts aus und gab ihr, was sie wollte. Die Wahrheit. Die gnadenlose, unbarmherzige Wahrheit.    

HalfbloodWhere stories live. Discover now