Prinzessin im Turm

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So vieles war zu schnell gegangen, um es wirklich zu erfassen. Vielleicht war das der Grund, warum keiner von ihnen Eile zeigte, in den Turm des Dornröschens zu gelangen. Es war so ungewohnt, wieder in einem unversehrten Schloss zu stehen, dass sie es erst richtig verstehen mussten. Selbst die unspektakuläre Mauerbrüstung war bereits in ihrer Einfachheit und Unversehrtheit so überwältigend, dass Hagen sich dabei ertappte, wie er einfach nur beide Arme ausbreitete um das Gefühl zu genießen, sie nicht von langen Dornen zurückziehen zu müssen.

Der Weg zur nächsten Treppe hinab war nicht weit. An den Ecken war die Mauer mit kleinen Türmen versehen, die sich ins Innere des Hofes hin ausbeulten und durch deren Inneres eine schmale Wendeltreppe hinabführte, trotz all der Jahre, die sie unbenutzt geblieben sein musste, fast völlig staubfrei.

Der erste Soldat, den sie fanden, ließ Hagen das Schwert ziehen. Er war auf halbem Weg auf der Treppe gegen seine alte Hellebarde eingenickt und atmete alle paar Atemzüge besonders laut und schnarchend ein, sodass es durch das ganze Treppenhaus schallte und sein erster Gedanke war, dass ein wildes Tier an seinem Fuß nur darauf wartete, sie alle zu verschlingen.

„Und sie verfielen alle in einen tiefen Schlaf", murmelte Mathilda ehrfürchtig, als sie ihn schließlich sahen, die Hände an den Waffen wieder entspannt.

„Sollen wir ihn aufwecken?", flüsterte Zacharie.

„Wenn das hier ein gewöhnlicher Schlaf wäre, hätte das unser Lärm längst geschafft", sagte Asifa spöttisch und trat kurzerhand nach vorne, um dem Soldaten einen Schubser zu versetzen, der ihn nach hinten wegkippen ließ. Er sank geräuschvoll gegen die Wand, reagierte aber nur mit einem erneuten, lauten Schnarchen.

„Ich wünschte, ich könnte immer so gut schlafen", sagte Lore. „Wenn Ortrun Radau mach, ist das unmöglich."

Zacharie kicherte, ein Laut, der gleichzeitig fremd in Hagens Ohren klang und doch an keinen Ort der letzten Tage besser passte, als dieses schlafende Schloss. Er warf einen unauffälligen Blick zu Samir hin.

Die Miene des Wanderprinzen war völlig neutral geworden. Über Lores Kommentar lächelte er kurz, bevor seine Züge zu jenem Zwischenzustand zurückkehrten, weder besonders freudig, noch allzu niedergeschlagen. Hagen konnte sich nicht vorstellen, wie es ihm gehen musste – er wollte es auch nicht. Die letzten Ereignisse hatten ihn tiefer bewegt, als er selbst zugegeben hätte, und die Tiefen von Samir, die er dabei gesehen hatte, waren besonders erschütternd gewesen. Ihre Geschichte hätte so nicht verlaufen sollen, der Wanderprinz wäre sicher und zuversichtlich und so viel würdiger als er verblieben – oder vielleicht war er jetzt auch würdiger als je zuvor, nachdem er die tiefste Verzweiflung gefühlt und überwunden hatte.

Es mochte genau dieser Gedanke gewesen sein, der Hagen zögern ließ, seine Ankündigung wahr zu machen und ohne Rücksicht auf ihn vorwärts zu eilen, hin zum Turm der Prinzessin. Sie war endlich zum Greifen nah, ohne Hindernisse zwischen ihr und ihm und doch konnte er sich nur mit Widerwillen zum Weitergehen bewegen.

Wenn er sie erreicht hatte, dann würde er sehen, ob sein Schicksal das war, für das er es sein Leben lang gehalten hatte. Der Gedanke ließ ihn erschauern und beschleunigte gleichzeitig seine Schritte, bis er die anderen überholt hatte und als erster das Treppenhaus verließ.

Der weite Hof ließ ihn kurz innehalten. Auf der Seite, die sie als nächstes erreicht hätten, wenn sie um die Ecke gebogen wären, wurde die hohe Mauer von einem großen Tor geteilt, das mit mehreren dicken Balken verriegelt war. Von dort aus führte ein sauber gepflasterter Weg geradeaus hin bis zu den Hauptgebäuden, wo er sich in einen großen, runden Platz öffnete, der Raum für mehrere Kutschen bot um ihre Insassen direkt zu den Treppenstufen der Empfangssäle zu bringen und bequem umwenden zu können.

Dornen - Das verwunschene KönigreichWhere stories live. Discover now