Zwischen stillen Mauern

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Hagen hatte geglaubt, er wäre vorbereitet auf alles, was das Schloss ihm bieten könnte, auf einen erwachenden Hofstaat, eine fremde Prinzessin, auf Erklärungen und letzte Lockungen und Fallen. Aber das, was ihnen Prinzessin Elwa eröffnet hatte, brachte alles, woran er geglaubt hatte so ins Wanken, dass er selbst sich fast schwindelig fühlte davon.

Sie war wach, seit Jahrzehnten schon. Es brauchte mehr als einen einfachen Kuss, um den Fluch zu bezwingen und selbst die Prinzessin, die so viel Zeit damit verbracht hatte, sich darauf vorzubereiten, wusste nicht, was genau sonst nötig war. Wenn sie diesen Versuch gemeinsam wagten, dann war es wirklich und wahrhaftig die letzte Möglichkeit, bevor die Dornen selbst das zeitlos schlafende Schloss zurückeroberten und es für alle Zeit unmöglich sein würde, sie zu durchdringen.

Er war eindeutig nicht der einzige, der sich der Unmöglichkeit dieses Vorhabens erst wirklich bewusst werden musste, und als Elwa sie schließlich in die nächsten Gemächer brachte, war selbst Lorelei in nachdenkliches Schweigen versunken.

„Ich habe immer zwei Gastgemächer hergerichtet, falls freundliche Neuankömmlinge vorbeikommen", sagte Elwa, als sie dort angekommen waren. „Ich habe immer gehofft, jeden Tag, dass jemand kommen wird um mir wenigstens Gesellschaft zu leisten, nur mit gleich sieben Gästen hätte ich nicht gerechnet – aber es gibt genug Decken und Kissen und gepolsterte Liegen, dass Ihr alle einen Platz finden werdet. Falls Euch das nicht genügt, kann ich gerne nach den Quartieren im Stock darüber sehen, es wird nur kurz dauern."

„Das wird genügen", sagte Hagen knapp, ohne recht darüber nachzudenken. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er auf seine eigenen Gemächer bestanden, selbst unter diesen Umständen, aber wenn man so viele Nächte Seite an Seite mit Dienern, Soldaten und fremden Prinzen verbracht hatte, dann war der Gedanke daran, ganz allein zu schlafen, fast befremdlicher.

„Was ist mit Euch?", fragte Mathilda interessiert, als Prinzessin Elwa geduldig in dem kleinen Empfangsraum vor den Schlafkammern wartete. Sie zeigte keinerlei Anzeichen von Müdigkeit trotz der fortgeschrittenen Stunde.

Sie lächelte wehmütig. „Mit hundert Jahren habe ich genug für mehrere Leben geschlafen", antwortete sie. „Ich werde mich noch einmal auf alle Vorbereitungen der letzten Jahrzehnte zurückbesinnen. Aber wenn Euch irgendwelche Fragen oder Sorgen quälen, dann werde ich hier wachen."

Hagen runzelte die Stirn. Es war ein fas unangenehmer Gedanke, sie wachend so nah zu wissen, auch wenn zuhause in Gunderfort zu jederzeit mehrere Diener bereit gestanden waren, um ihm oder anderen Mitgliedern des Hofstaats für jegliche nächtlichen Nöte zur Seite zu stehen. Ihm gefiel es nicht, dass sie ihm so die Zügel aus der Hand nahm und planen konnte, wo er sich selbst nur noch nach Schlaf sehnte.

„In den Schränken wird sich Wäsche finden, falls Ihr Euch neu einkleiden wollt", erklärte Elwa weiter. „Ich werde Euch frisches Wasser bringen, dass Ihr Euch den Schmutz der letzten Tage von der Haut waschen könnt."

„Das ist nicht Eure Aufgabe", sagte Hagen und hob die Augenbrauen.

„Wer soll es sonst tun?", erwiderte sie mit schwachen Grinsen. „Es freut mich, endlich wieder Menschen um mich zu haben. Wenn ich etwas für sie tun kann, ist das umso besser."

Sie sprach nicht weiter darüber, was sich für eine Prinzessin ziemte und was nicht, sondern führte sie kurz in die beiden Räume, bevor sie es ihnen überließ, sich aufzuteilen und zum Schlafen bereit zu machen.

Er sah ihr nachdenklich hinterher, wie sie mit festen, langen Schritten davoneilte und fragte sich wie viel von der Person, die sie heute war, wohl von den langen Jahren der Einsamkeit geformt worden war. Sie sprang unstetig umher zwischen der Sicherheit einer Frau, die ihr Schloss bis in die letzte Ecke kannte und der übereifrigen Hilflosigkeit von einem Mädchen, das sich kaum an die Präsenz wachender Menschen um sich erinnern konnte. Es war schwer, sie auf die gleiche Weise einzuschätzen, wie er es mit jedem anderen Menschen tun würde. Selbst Samir war ihm zugänglicher gewesen als sie.

Dornen - Das verwunschene KönigreichHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin