Das letzte Aufatmen

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Sie alle waren vor Aufgang der Sonne erwacht, obwohl für einige von ihnen die Nacht kurz und unruhig gewesen war.

Samir spürte, dass eine alte Magie in der Luft lag, die sie sanft in die richtige Richtung drängte und ihnen auftrug, sich auf den Weg zu machen, auch wenn die einstige Schutzherrin dieses Ortes nicht mehr lebte. Er fühlte sich auch mit wenigen Stunden Schlaf ausgeruht und vor allem bereit für den kommenden Weg. Das Schloss ragte verheißungsvoll über ihnen auf und auch wenn er sich keine Illusionen darüber machen wollte, wie leicht oder schwer es wohl zu erreichen war, ließ es in ihnen allen den Tatendrang neu erstehen.

Es gab keine Diskussion darüber, ob es für alle weitergehen sollte oder nicht – jetzt war ihr Schicksal verbunden und ihr Weg klar.

Der Bärenprinz begleitete sie schwerfällig bis zum Rand der Dornen auf der anderen Seite.

„Ich war mit meinem Gefolge auf der Jagd, als alles geschah", erzählte er ihnen. „Als wir zurückkehren wollten, schlugen uns die Dornen entgegen und aufgebrachte Diener, die gerade so entflohen waren, warnten uns vor dem Fluch, der das Schloss befallen hatte. Wir kehrten in das Jagdschloss zurück, um unsere Kräfte zu sammeln, aber das nächste Mal das wir versuchten, zu meiner Familie vorzudringen, waren die Dornen noch dichter und schwerer zu bezwingen. Bald waren wir genug damit beschäftigt, all die Kreaturen in Schach zu halten, die in ihrem Inneren brüteten, um uns noch einen Weg hinein zu suchen. Jetzt glaube ich, dass es nie meine Bestimmung war, zurückzukehren."

„Wenn der Dornenfluch vorüber ist, werdet Ihr kommen", sagte Fürstin Mathilda. „In menschlicher Gestalt, sobald wir die letzte Taube finden."

„Darauf hoffe ich", erwiderte der Bärenprinz ernst. „Ich wünschte, ich könnte jetzt mit Euch kommen, aber zumindest konnte ich Euch sagen, was ich über den Weg weiß."

„Und dafür sind wir über alles dankbar", sagte Samir.

„Wenn der Weg auch nur ansatzweise an das erinnert, was hier vor den Dornen zu finden war", warf Hagen ein.

„Die wichtigsten Wege haben die Dornen bisher offen gelassen", sagte der Bärenprinz. „Wenn es noch Wege gibt, dann sind es die alten, keine neuen, unbekannten Pfade."

Um sie herum senkte sich das Gras rasch, bis sie bald vor den Dornen standen, direkt an einem engen, dunklen Eingang, während hinter ihnen die Sonne den Himmel zunehmend heller färbte.

„Ich wünsche Euch alles erdenkliche Glück", sagte der Bär, als er sich auf seine Hintertatzen setzte und sie an ihm vorbeiziehen ließ. Djadi verbeugte sich tief vor ihm, was Samir lächeln ließ und Zacharie umarmte ihn nach bestem Vermögen. Für lange Abschiede war keine Zeit, das war ihnen allen bewusst.

Samir atmete ruhig ein und aus, bevor er hinter den Anderen die Dornen erneut betrat. Die Beklemmung, die sie über sie brachten, war beinahe greifbar, genauso echt wie die wuchernden, tödlichen Ranken, die um sie herum schwach erzitterten, als sie dem Weg tiefer hinein folgten.

„Wir müssen uns beeilen", sagte Hagen von vorne. Er hielt kurz inne um sicherzugehen, dass sie alle hinter ihm waren. Samir nickte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. Er würde aufpassen, dass sie zusammen blieben.

Der Beginn des Weges war nahezu einfach, verglichen mit allem, was ihnen die letzten Tage begegnet war. Eine Weile setzte sich der sanfte Abhang der Wiese fort und sie kamen schnell voran, auch wenn die Dornen keine Sekunde Ruhe gaben und bei jedem Schritt mit gierigen Fingern nach ihnen griffen. Der Weg war nicht so überwuchert wie andere Teile, die sie durchschritten hatten, aber an der schieren Dicke der Ranken war zu sehen, wie viel älter sie sein mussten. Manche von ihnen hatten den Umfang mehrerer Baumstämme, die Dornen daran dicker und länger als Männerarme, merkwürdige Gebilde im Schatten hinter dem Vorhang der jünger nachgewachsenen Ranken.

Dornen - Das verwunschene KönigreichWhere stories live. Discover now