Kapitel 17 {Der Traum von Papa}

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Kurz gefror mein Herz, also mein Traumherz. Vielleicht aber auch mein echtes. Denn ich sah meine Mutter vor mir.
Ich hatte beinahe vergessen wie sie aussah, ihr Gesicht war vor meinen Augen verblasst und wann immer ich danach griff löste es sich auf wie Nebel in meinem Kopf. So lange war es jetzt schon her.
Aber jetzt, jetzt sah ich ihr Bild so deutlich als wäre es wirklich passiert.
Ich konnte den Geruch nach verbrannten Säuren riechen. Ich sah die Spritzen überall herum liegen und spürte die Hitze in dem Wohnzimmer, welches ich mich langsam zu betreten getraute.
Ich bewegte mich in meinem Traum, ich hatte das Gefühl dass ich die Bewegungen steuern konnte, und trotzdem war es ein längst vergangenes Ich dass mich lotste. Das die Kontrolle über meinen Traum übernahm.
Ich sah dass ich kleiner war, ich reichte gerade so bis zum Esstisch, der vor dem Sofa stand, dem abgewetzten alten Ding, dass meine Mutter irgendwann einmal von der Strasse aufgesammelt hatte.
Ich konnte sehen dass meine Mom auf dem Sofa lag, ihre Arme hingen von dem braunen zerfetzten Stoff hinunter und eine Stelle an ihrem Arm war abgebunden. Fest abgebunden. Das Blut staute sich dahinter merklich.
Ihre Finger bewegten sich ab und zu, doch sonst lag sie ausgestreckt da. Ich sah, wie ihre Lippen sich lautlos bewegten.
Ich konnte mich plötzlich erinnern, dass ihre Augen nicht mehr ihre gewesen waren.
So ausdruckslos und vernebelt als wäre sie in einer anderen Welt. Das war öfters vorgekommen. So oft, dass ich bereits Angst davor hatte, das Wohnzimmer zu betreten. Aus Angst vor ebendiesem Bild.
Jedes Mal wenn ich sie angesehen hatte, hatte ich dann das Gefühl gehabt, dass sie mich alleine liess, alleine in dieser schrecklichen Welt.
Das Bild flackerte vor meinen Augen, ich sah nicht scharf, es war die Traumwelt und trotzdem wusste ich, dass ich das einmal erlebt hatte.
Instinktiv wusste ich es, nur konnte ich mich bisher nicht mehr dran erinnern.
Ich wollte den Mund öffnen und sie anschreien. Ihr vorwerfen wie ich mich ihretwegen immer gefühlt hatte.
Doch es kam kein Ton heraus, ich war ein Zuschauer in meinem eigenen Leben.
Ich fühlte mich schrecklich, aber aufhören konnte ich nicht, ich wollte wissen was der Doktor gemeint hatte, als er meinte traumatisierende Ereignisse die ich verdrängte würden zurück kommen.
Ich sah wie ich weiter lief, jedenfalls kam der Tisch näher, kleine Händchen legten sich darauf und versuchten durch die Gefässe die darauf standen meine Mutter zu sehen.
Ich wusste dass meine Mama immer nein gesagt hatte, ich sollte die Dinge auf diesem Tisch nie anfassen hatte sie mir erklärt.
Trotzdem kletterte ich darauf, kroch auf allen Vieren vorsichtig vorwärts, darauf bedacht nichts zu zerbrechen.
Mutter würde sonst wütend werden. Und das wollte ich nicht.
Sie war immer wütend wenn sie wieder aufwachte. Deswegen schloss ich mich dann immer in meinem Zimmer ein.
"Mama?"
Hörte ich eine feine Stimme fragen und schauderte als ich erkannte, dass es meine war.
Sie antwortete nicht, sie schlief einfach ganz friedlich.
Ich freute mich für sie, denn sonst stritt sie immer mit Papa.
An ihn hatte ich nicht wirkliche Erinnerungen, eigentlich gar keine. Ich rutschte vom Tisch, stand direkt vor meiner Mutter die den Mund leicht geöffnet hatte.
Ich legte den Kopf neben sie auf das Sofa und wollte auch schlafen, bei ihr, um nicht alleine in meinem kleinen Zimmer sein zu müssen.
"Gute Nacht Mama."
Ich streckte mich auf meinen kleinen Beinchen und spitzte die kindlichen Lippen und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
"Ich hab dich fest lieb."
Dann umarmte ich sie mit meinen Speckärmchen und zog die dünne und nasse Decke von den Füssen über sie und fühlte mich so gross und erwachsen.
Mama würde dieses Mal stolz auf mich sein, und mir nicht nachrennen und schreien.
Dieses Mal würde sie sich so freuen dass sie mir keine Angst machte.
Überzeugt drehte ich mich um und wollte es mir auf dem Teppich neben ihr bequem machen, so weit entfernt dass sie spucken konnte, wenn sie aufwachte.
Ich hatte an alles gedacht, ich war schliesslich eine gute Tochter, wie sie immer sagte, während sie ihren Löffel mit der stinkenden Flüssigkeit übers Feuer hielt.
Manchmal schenkte sie mir auch selbst genähte kleine Bärchen.
Meine Lieblingsspielsachen. Und auch dir Einzigen, die ich besass.
Doch ich hatte mich kaum hingelegt als die Türe im Gang aufging und ich mich blinzelnd wieder aufrichtete.
Ich sah zuerst nur Füsse, die torkelnd rein stolperten und hob dann den Kopf hinauf.
Ich erinnerte mich nicht mehr an meinen Vater, aber es musste wohl dieser Mann sein.
Seine Weste, die er anhatte, darauf war ein Drache gestickt, der sich um ein Schwert geschlungen hatte.
Wie die Männer Westen getragen hatten, die mich hatten töten wollen, als meine Mutter gestorben war.
Ich schauderte innerlich, er hatte zu ihnen gehört? Zu denselben die mich hatten töten wollen? Es ergab keinen Sinn. Wieso hätte mein Vater mich töten wollen?
Ich setzte mich wieder auf und spürte dass ich lächelte, dass ich mich freute ihn zu sehen.
Ich musste ihn wohl geliebt haben.
Wortlos und mit verzerrtem Gesicht, das viel rundlicher war als meins, taumelte er auf uns zu, die Flasche in der Hand leerte aus, es roch nach Alkohol und ich musste niesen. Der Teppich war jetzt schmutzig. Sie würden wieder streiten.
"Mary, verdammt du miese Schlampe..."
Fluchte er und rüttelte an den Armen meiner Mutter, sehr fest. Sie wachte nicht auf.
Ich verstand nicht, was er zu ihr sagte, aber ich wollte nicht, dass er Mama weh machte.
Also hielt ich seine festen Arme fest und schüttelte den Kopf sodass meine langen Haare flogen.
"Nicht Papa, sie schläft doch!"
Fluchend schüttelte er mich ab sodass ich zurück stolperte.
Dann schoss er die Flasche an mir vorbei, die hinter mir an der Wand zerschellte.
Ich schrie leise auf, es war so laut. Ich bekam Angst, wenn Papa wütend war, war er noch viel schlimmer als Mama.
Mit grossen Augen starrte ich ihn an, seine Augen waren verschleiert und dunkel, sodass ich gleich wusste dass er wütend war. Und dass sich das Böse in seinem Geist breit gemacht hatte.
Dabei hatte ich doch nichts falsch gemacht. Ich versuchte nachzudenken was mein Fehler war dass er mich bestrafen wollte.
"Hast du Mami geholfen?"
Er hieb nach mir und traf meine Wange sodass es knallte, noch lauter als die Flasche.
Es brannte und surrte, es tat richtig weh, meine Sicht verschwamm.
"Ich hab doch gar nichts gemacht! Ich habe sie nur zugedeckt!"
Wimmerte ich, als er mich an den Haaren packte und zurück zog, sodass ich mit dem Rücken an die Wand knallte und weinte, weil es so weh tat und ich Angst hatte. Scherben, die noch mit dem Bier an der Wand hinunter liefen, stachen in meinen Rücken. Doch ich hatte zu grosse Angst vor meinem Dad, um mich zu bewegen.
Aber ich kannte das Gefühl ja schon, es war wohl nicht das erste Mal.
Mein Vater sank auf die Knie und raufte seine Haare, er war nun auf selber höhe wie ich und streckte die Hand nach mir aus.
Ich sah dass er weinte, die Tränen liefen ihm glitzernd über die Wangen mit den Stoppeln die Mama immer kitzelten wenn sie sich küssten. Oft hatte sie deswegen reklamiert. Dann stritten sie wieder.
"Du bist so ein gutes Mädchen Amara, komm zu mir, lass mich dich fest halten."
Seine Stimme war schwach und er schien völlig am Ende, ich zitterte und mir war plötzlich so kalt.
Ich musste jetzt nachdenken.
Was machte ich wenn das passierte? Genau, ich musste weg rennen und mich verstecken.
Also drehte ich mich um, meine kleinen Füsse prallten auf den kalten Boden als ich mit an den Wänden vor tastete und auf meine Türe zu rannte, die leicht geöffnet war.
Sie war wie mein Schloss.
Wenn ich sie zumachte war ich die Prinzessin, die selbst entschied wann sie ass, wann sie weinte oder wann sie schmerzen hatte. Es war etwas Besonderes, diese Türe zu schliessen.
All die Welten aus Fantasie die dahinter steckten, die Welten aus denen ich entfliehen konnte aus dem was ich erlebte.
Ich rannte auf sie zu und hörte hinter mir meinen Vater keuchen, er folgte mir. Er jagte mich.
Mein kleines Herz raste in meiner Brust und ich atmete zitternd ein und aus.
Ich flitzte in mein Zimmer und stiess die Türe zu, doch grosse Hände stemmten sich dagegen.
Ich schrie und weinte, meine Panik hatte sich in Todesangst umgewandelt und ich versuchte, mit meinem Gewicht die Türe zu zu halten.
Doch die groben Finger griffen durch den Spalt, drückten dagegen und ich musste zurück stolpern.
Er war viel stärker als ich.
Und das wusste ich auch.
Ich wich zurück und wusste, was nun kommen würde.
Er stand in meinem Zimmer wie ein Monster, das sich Zugriff auf mein Schloss verschafft hatte. Er atmete rasselnd und stand nur da, mit geballten Fäusten.
Er kam mir so gross vor, so unbesiegbar wie der Böse Drache der immer vor meinem Schloss auf mich lauerte. Und jetzt war er drin.
Ich schluckte und ging rückwärts, während seine erste Faust meinen Bauch traf und ich husten musste.
Ich fiel gegen die Wand und kauerte mich in die Ecke des dunkeln Zimmers zusammen.
Ich zog die Beinahe an und legte den Kopf an die Knie, wenn ich ihn nicht sah, würde es weniger weh tun.
Ich spürte wie er an mir riss, wie er auf mich einschlug.
Die Schmerzen jedes Mal wenn er mich traf wurden stärker, in der Krippe müsste ich wieder lange Pullis anhaben obwohl es warm war und meine Lehrerin würde mich wieder mit diesen merkwürdigen, traurigen Blicken ansehen.
Dann schloss ich die Augen und liess mich los.
Liess den Teil von mir los, der mir solche Schmerzen und Angst bereitete.
Ich liess ihn einfach los und spürte wie ich abrutschte. Mich weiter von mit entfernte, bis ich die Schläge nicht mehr, spürte nur doch ein fremdes Poltern, gedämpft durch die Wand die sich zwischen mir und dem Mädchen erstreckte, die von ihrem Vater geschlagen wurde.
Ich sah die Wand an, hielt eine Hand dagegen. Sie tat mir leid. 
Dann drehte ich mich um und begann zu summen, wie eine Prinzessin die in schönen Kleidern auf ihrem schönen Pferd durch eine schöne Heile Welt ritt.
Er schlug und die Sonne schien.
Er schlug und ich weinte nicht mehr, ich lachte, genoss die Blumen unter meinen Füssen.
Er schlug und es traf nicht mehr mich, es traf nur noch ein kleines Mädchen in der Ecke. Das nicht ich war.
Ich war nämlich eine Prinzessin und mir ging es gut.
Ich musste das nicht erleiden.
Es war ein trauriges Spiel, aber vielleicht musste es so traurig sein dass ich es spielte.
Irgendwann hatte er aufgehört und ich verabschiedete mich von meinem Pferd, ging wieder zu der Wand zurück, die nun verschwand. Dann war ich wieder das Mädchen, welches noch immer zusammen gekauert dasass, die Schmerzen in ihren Gliedern wurden wieder meine, aber es war vorbei.
Mein Vater lehnte vor mir und ich öffnete langsam die Augen, sein Kopf war an die Wand gelehnt und er schluchzte laut.
Dann zog er mich zu sich und ich wehrte mich nicht, liess mich umarmen obwohl es weh tat.
Er hielt mich so fest und vergrub das Gesicht in meinen Haaren.
"Ich liebe dich Amara. Es tut mir so leid..."
Er schüttelte sich und ich verstand, dass es ihm auch weh machte.
Wie mir. Nur auf eine andere Weise.
Trotzdem fragte ich mich, wieso er mir weh tat.
Aber langsam verstand ich das.
Es war wie bei Mama, wenn ich ihr half die Einkaufstaschen zu tragen, wenn sie für sie zu schwer wurden.
Vielleicht hatte Papa auch Schmerzen, so viele dass er sie nicht tragen konnte. Und deshalb half ich ihm sie zu tragen, vielleicht gab er sie mir deshalb weiter.
Weil er meine Hilfe brauchte und weil er wusste dass ich da war. Da war um zu tragen.
Ich war da, um ihm zu helfen, zu helfen indem ich ihn einfach lieb hatte und ihm die Schmerzen nahm.
Und indem ich ihm zeigte, dass es nicht schlimm war, dass er nicht noch mehr Schmerzen haben musste.
"Es tut gar nicht so weh."
Sagte ich dann und er strich über meine Haare. Blut tropfte von meiner Lippe.
„Ich liebe dich auch Papi. Und ich verzeihe dir."

Leider geht es viel zu vielen Leuten so, ich hoffe sehr dass ihr seht wie schrecklich es ist, und das nie vergesst und niemals selbst sowas tut, oder es euch antun lasst! Jedes Leben ist wertvoll!
Angora77

Poisoned Kiss *beendet* Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt