Kapitel 28

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POV Helena

Beim Abendessen ist die Stimmung wie immer gut, doch ich fühle mich immer noch schrecklich. Vorhin sind die anderen mit dem fertigen Floß über den See gefahren, doch ich habe mich in mein Zimmer verkrochen. Ich fühle mich unendlich schuldig dafür, dass Yuna ihre Hand verletzt hat. Nur weil ich ihr beweisen wollte, dass ich meine Hände schmutzig machen kann, hat sie sich so weh getan. Obwohl sie heute Morgen so schlecht über mich geredet hat,hat sie mich doch beschützt. Ich verstehe nicht, wieso sie diese Schmerzen für mich in Kauf genommen hat. Vielleicht war es wirklich ein Reflex, doch ich kenne nicht viele Leute, die so etwas tun. Mehrmals habe ich heute meine Hände betrachtet und war unglaublich erleichtert, dass ich sie noch unversehrt besitze. Yuna hat vielleicht meinen Traum am Leben erhalten und ich muss mich bei ihr dafür bedanken. Gleichzeitig hat sie mir vorhin ziemlich deutlich gemacht, dass sie keinen Bock auf mich hat, was mich verletzt. Ich spüre in mir deutlich, dassich sie gern habe und möchte, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Sie redet heute noch weniger als sonst beim Essen und hin und wieder verzieht sie das Gesicht, vermutlich wegen der Schmerzen.

Als sich nach dem Essen alle verteilen, sehe ich meine Chance, nochmal mit ihr zu reden. Sie läuft in Richtung Bad und ich folge ihr kurzerhand und zwänge mich mit in den kleinen Raum. Als ich hinter mir die Tür schließe, dreht sie sich verwirrt herum und ihr Blick wird leicht genervt, als sie mich erkennt. „Was willst du?", fragt sie und greift mit ihrer gesunden Hand nach den Schmerztabletten. Ich bin wie immer nervös in ihrer Nähe, doch gleichzeitig denke ich mir, dass ich nicht viel zu verlieren habe. Schließlich ist Yuna sowieso schon ziemlich genervt von mir, viel schlimmer wird es durch meine Worte nicht werden. „Ich wollte mich bedanken", sage ich und knete verlegen meine Hände ineinander. Yuna verdreht die Augen und versucht mit einer Hand, die Dose mit den Schmerztabletten zu öffnen. „Wir können es gerne einfach vergessen", meint sie und scheitert kläglich an dem Deckel. Nach mehreren Versuchen ertrage ich es nicht mehr und nehme ihr die Dose aus der Hand. Ich drehe sie auf und halte sie ihr hin, doch als sie danach greifen will, ziehe ich sie wieder weg. „Warum hast du es getan?", frage ich sie erneut, weil ich mir sicher bin, dass es einen Grund dafür gibt. Sie sieht mir in die Augen und ihr Kiefer spannt sich an. „Warum interessiert es dich? Ich hatte doch das Gefühl, dass wir uns nicht viel zu sagen haben." Ich erwidere ihren kühlen Blick und weiß, dass sie auf meine heutige Ignoranz anspielt. Daran bin wohl kaum ich schuld, denke ich mir, doch unterdrücke den Drang, es zu sagen. „Ein Grund mehr, mich selbst in den Nagel fassen zu lassen", erwidere ich bissig und starre ihr weiterhin in die Augen. Yuna seufzt genervt und meint dann: „Du bist eindeutig schon den ganzen Tag sauer auf mich, sag mir einfach deine Meinung, wenn es dir dann besser geht und lass mich danach in Ruhe." Ich verdrehe die Augen und reiche ihr die Dose mit dem Schmerzmittel, weil sie eindeutig nicht versteht, was mein Problem ist. „Ich bin nicht sauer auf dich", sage ich resigniert und mit weniger Schärfe in der Stimme. Yuna nimmt die Dose entgegen und kommt mir einen Schritt näher, um mich zu fragen: „Was willst du dann von mir?"

Ich sehe in ihre Augen und frage mich selbst, warum ich ihr wirklich gefolgt bin. Ich frage mich, warum ich schon den ganzen Tag versuche, mich genau so zu verhalten, wie es mir für sie richtig vorkommt. Es ist mir wichtig, was sie von mir denkt und ich bin mir relativ sicher, dass das einen einzigen Grund hat. Mein Blick fällt kurz auf ihre Hand und ich weiß, dass es keine Rolle spielt, warum sie es getan hat. Fakt ist, dass sie meine Hände gerettet hat und sie damit etwas in mir auslöst, dass ich nicht in Worte fassen kann. Es ist viel mehr als Dankbarkeit und ich will ihr wirklich zeigen, was es mir bedeutet. Für einen Moment vergesse ich meine Prinzipien und meine Ängste, trete einen Schritt vor und stelle mich auf meine Zehenspitzen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde berühren meine Lippen Yunas, doch es reicht, um das Kribbeln in meinem Bauch auszulösen. Ich bekomme Gänsehaut in meinem Nacken und weiche Knie, mein Herz klopft wie wild in meiner Brust. Als ich mich von ihr löse, schaue ich sie verlegen an und beiße mir auf meine Lippe. Ich weiß nicht wirklich, was ich da gerade getan habe. Yunas Augen weiten sich leicht und nach einigen Sekunden verzieht sich ihr Mund zu einem leichten Grinsen. Es erleichtert mich, sie heute endlich mal wieder lächeln zu sehen, trotzdem bleibt meine Unsicherheit. Sie mustert mich kurz und seufzt dann: „Ich habe es gemacht, weil deine Hände wichtiger sind als meine." Gänsehaut überkommt mich ein weiteres Mal und mein Herz wird von einer Wärme erfüllt, die ich so selten gespürt habe. In Yunas Augen erkenne ich, wie ehrlich sie es meint und es berührt mich zutiefst. Sie hat mich beschützt und meine Träume bewahrt. Es ist mir egal, ob es genau das Falsche in diesem Moment ist, ich kann es sowieso nicht kontrollieren. Innerhalb von einer Sekunde liegt meine Hand an ihrer Wange und ich lege meine Lippen wieder auf ihre. Ich höre wie die Dose mit dem Schmerzmittel auf den Boden fällt, doch es ist mir egal, weil Yuna ihre Hand in meine Haare legt. Sie erwidert die Bewegung meiner Lippen und legt ihren Arm um meine Hüfte. Ich merke erst jetzt, dass ich schon die letzten Tage wissen wollte, wie es sich anfühlt, ihr näher zu sein. Sie küsst mit sehr viel mehr Gefühl als ich ihr zugetraut hätte, doch gleichzeitig wirft es mich völlig aus der Bahn. Ich spüre ihre Hand in meinem Nacken, die mich noch dichter zu ihr zieht und ich lasse es nur zu gerne zu. Mein Bauch kribbelt und meine Gedanken sind für einen Moment vollkommen frei von Sorgen. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlt es sich an, als würde ich schweben und als gäbe es nur mich und das Mädchen, das mich schon seit Tagen so sehr beeindruckt. Als ich mich noch mehr zu Yuna lehne, stützt sie sich aus Reflex am Waschbecken ab und ächzt auf. Sofort löse ich mich erschrocken von ihr und sehe, dass sie sich auf ihre verletzte Hand gelehnt hat. Schuldgefühle kommen wieder in mir auf und ich betrachte traurig den Verband an ihrer Hand. Warum bin ich nur so ein Vollidiot? „Hey, schau mich an", sagt Yuna und ihre Stimme klingt ganz anders als sonst. Sonst schwingt immer etwas in ihren Worten mit, dass mir zeigt, wie überlegen sie mir ist. Jetzt jedoch hat ihre Stimme einen warmen Klang, der mir meine Unsicherheit nimmt und mir ein gutes Gefühl gibt. Ich sehe in ihre Augen und sie grinst mich leicht an. Beim Blick auf ihre Lippen kribbeln meine direkt wieder und ich kann nicht fassen, dass ich sie gerade wirklich geküsst habe. Noch immer schwirren Schmetterlinge durch meinen Bauch und meine Gedanken sind noch nicht wieder klar. „Zwischen uns ist alles gut, Red Russian", sagt sie und streicht mit ihrem Zeigefinger kurz über meine Wange. Ich lächele dankbar und spüre, dass ich mal wieder leicht rot und verlegen werde. „Jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe meine Schmerzmittel nehmen, okay?", sagt sie und schiebt mich kurzerhand aus der Tür hinaus. Ich laufe hinaus auf die Terrasse und setze mich zu Etienne und Alex, die schon wieder auf der Gitarre herumklimpern. Es fällt mir schwer, mein Lächeln zu verbergen, weil ich gerade zum ersten Mal in diesem Urlaub echt glücklich bin. Es freut mich, dass zwischen mir und Yuna wieder alles gut ist und sie mich nicht hasst. Keine Ahnung, wann ich realisieren werde, dass ich gerade meinen ersten Kuss hatte und dann auch noch mit einem Mädchen. Ich sollte mir über einige Dinge vielleicht Gedanken machen, aber gerade habe ich dazu keine Lust. Gerade möchte ich mit Alex singen und mit Mika tanzen, während Etienne uns anfeuert. Dafür sind diese Sommer doch schließlich da, wenigstens das habe ich schon gelernt.

My hardest riseWhere stories live. Discover now