Kapitel 63

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POV Helena

Meine Hände zittern, als ich mich in dem Hotelzimmer, das meine Mutter extra gebucht hat, vorbereite. Sie möchte sich morgen noch ein wenig die Stadt ansehen, in der ich vielleicht studieren werde. Wir fahren gleich zur Hochschule und dann gibt es kein zurück mehr. Immer wieder gehe ich in meinem Kopf das Stück durch und mein Magen fühlt sich an, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Quinn hat mir erzählt, wie aufgeregt sie vor dem Vorspielen war, doch bis eben habe ich es trotzdem unterschätzt. Plötzlich ist alles so real und es kommt mir viel größer und bedeutsamer vor als noch vor einigen Wochen. Ich könnte mit einem Fehler heute meine gesamte Zukunft verschenken. Meine Mutter telefoniert auf dem Weg zum Auto mit meinem Bruder, doch ich höre ihr gar nicht zu. Mein Herz rast schon bevor ich das Gebäude überhaupt betrete.

Wir werden von einem älteren Herrn mit Brille begrüßt, der meiner Mutter den Weg zum Zuschauerbereich zeigt. Dann werde ich in einen anderen Raum gebracht, in dem ich mich einige Minuten lang vorbereiten kann. Ich fahre mir mit meiner Hand übers Gesicht und versuche, meinen Puls etwas herunterzubekommen. Noch nie in meinem Leben war ich so aufgeregt und ich wünschte, irgendwer könnte mir meine Angst nehmen. Gleich muss ich vor einer Jury spielen, obwohl ich in den letzten Jahren so selten vor Publikum gespielt habe. Wieso kann meine Oma bloß nicht mehr bei mir sein. Mit ihr als Zuschauerin könnte nichts schief gehen, das weiß ich. Sie hat mir immer die Ruhe gegeben, die ich für das Spielen brauchte. Als mein Name aufgerufen wird, folge ich einer Frau, die mir den Weg auf die Bühne zeigt. Dort steht ein riesiger, wunderschöner Flügel, in den ich mich sofort verlieben könnte. Zwei Frauen und ein Mann sitzen in einiger Entfernung vor der Bühne und nicken mir kurz zu. Sie wirken genau so, wie man sich Professoren an Hochschulen vorstellt und meine Aufregung wird dadurch nicht gerade gesenkt. Ich setze mich vorsichtig auf den Hocker und klappe den Deckel des Flügels hoch. Mein Blick schweift über vereinzelte Personen im Publikum, bis ich meine Mutter sehe, die mir einen Daumen hoch zeigt. Ich atme tief durch und beginne dann mit meinen Fingern über die Tasten zu fliegen. Ich schließe die Augen, doch ich spüre, dass ich in mir drin nicht ruhig genug bin. Meine Gedanken sind nicht nur beim Klavier, sondern auch bei der Leere in mir drin. Mein Atem wird schneller und meine Hand zuckt, sodass ich mich verspiele. Sofort nehme ich meine Hände von den Tasten und betrachte sie einen Moment lang panisch. Als ich zu der Jury sehe, sagt der Mann: „Kein Problem, jeder hat einen Zweitversuch." Ich nicke ihm erleichtert zu, obwohl meine Anspannung nicht weniger wird. Was ist nur los mit mir? Ich darf jetzt nicht alles wegschmeißen, was ich mir so hart erarbeitet habe.

Kurz bevor ich wieder ansetzen will, ertönt das Geräusch einer der Türen des Saals und Schritte sind zu hören. Ich sehe in die Richtung, aus der sie kommen und kann nicht fassen, wen ich da sehe. Außer Atem steht sie hinter all den Sitzreihen und sieht genauso schön aus wie in meiner Erinnerung. Sie trägt einen blauen Overall, so als wäre sie direkt von der Arbeit hierhergefahren. Ihre Augen treffen meine und ich erinnere mich daran, warum ich wieder angefangen habe, vor Publikum zu spielen. Auf ihrem Gesicht entsteht ihr typisches Lächeln und ich kann nicht anders als es zu erwidern. Ich atme tief durch und spüre in mir, dass ich bereit bin. Meine Augen schließen sich von selbst und ich denke nicht mehr an die Noten. Ich denke daran, wie ich und Yuna zusammen im See schwimmen und daran, wie sie mich angesehen hat nach unserem ersten Kuss. Ich lege all meine Gefühle in meine Finger und sie bewegen sich von ganz allein. Ich bin so sehr im Moment gefangen, dass mir gar nicht auffällt, wie schnell ich fertig bin. Als ich den letzten Ton spiele, öffne ich meine Augen wieder und atme aus. Ich weiß nicht, ob ich schon oft besser gespielt habe als gerade. Die Jury nickt und ich sehe, wie sehr sich meine Mutter freut. Lächelnd verlasse ich die Bühne und laufe schnell in den Vorraum, wo meine Mutter schon auf mich wartet. Sie umarmt mich fest und sagt: „Das war super! Ich wusste, dass du es kannst." Ich lächele glücklich und löse mich von ihr. Hinter ihr öffnet sich die Tür erneut und mein Herz klopft höher, als ich Yuna erkenne. Sie grinst mich verschmitzt an und ich erwidere es, wobei ich wie immer leicht rot anlaufe. Meine Mutter realisiert die Situation zum Glück und sagt: „Ich gehe schon mal raus."

Dann lässt sie uns alleine und ich gehe ein Stück auf Yuna zu. „Was machst du denn hier?", frage ich und meine Stimme klingt nervös und beflügelt gleichzeitig. Sie greift sich mit ihrer Hand an den Hinterkopf und lächelt schief: „Ich weiß, mein Aufzug ist übelst unpassend und die Hälfte der Leute da drin hätte mich gerne mit ihren Blicken getötet." Sie wirkt ebenfalls seltsam nervös und zurückhaltend, was eigentlich so gar nicht ihre Art ist. Obwohl ich sie jetzt bestimmt fünf Wochen lang nicht gesehen habe, hat sie trotzdem noch genau die gleiche Wirkung auf mich. Ihre Augen sind mir vertraut und ihre Stimme ist für mich schöner als jeder andere Klang, der in diesem Gebäude erzeugt wird. „Dann sollen die die Türen halt mal leiser machen, wenn es so hallt", murmelt sie vor sich hin und ich muss automatisch schmunzeln. Sie passt kein bisschen hier her, was es umso besonderer macht, dass sie doch hier ist. Ich gehe noch einen Schritt auf sie zu und lächele: „Es ist egal, warum du da bist. Es freut mich so oder so." Sofort erwidert sie mein Lächeln und ich kann nicht verhindern, dass das altbekannte Kribbeln in meinem Bauch entsteht. „Darf ich dich umarmen?", frage ich zögerlich und Yuna wirkt für einen Moment überrascht. Dann grinst sie leicht und öffnet ihre Arme: „Wenn du riskieren willst, dass dein Outfit versaut wird." Schnell überwinde ich die Meter zwischen uns und werfe mich um ihren Hals. „Das ist mir so egal", flüstere ich in ihr Ohr und schmiege mich an sie. Ihre Arme schließen sich fest um meinen Rücken und ich schließe die Augen, um ihren Duft noch besser aufnehmen zu können. Ich habe es so sehr vermisst, ihr nah zu sein. „Du warst der Hammer", haucht Yuna mir zu und es bedeutet mir unendlich viel, dass es ihr gefallen hat. Ich lächele und werde wie immer leicht rot dank ihres Kompliments. Leicht unbeholfen löse ich mich wieder von Yuna und spiele an meinen Händen herum. „Was machst du jetzt noch?", frage ich und sofort umspielt ein kleines Lächeln ihren Mund. „Ich bin nur wegen dir hier, falls du das wissen wolltest", erwidert sie und grinst auf die charmante Weise, die ich am meisten liebe. Mein Lächeln wird immer breiter und als meine Mutter nach mir ruft, halte ich Yuna meine Hand hin. „Hunger?", frage ich und sie zögert kurz, nickt dann aber grinsend. Sie legt ihre Hand in meine und ich genieße das Gefühl ihrer Haut an meiner. Es fühlt sich so vertraut an, als hätte sie sie nie losgelassen.

My hardest riseWhere stories live. Discover now