Kapitel 46

1.5K 92 6
                                    


POV Yuna

Im Auto sitze ich neben Etienne und sehe zu, wie er bei „Sit still, look pretty" laut mitsingt und herumhampelt. Er will mich dazu animieren mitzusingen, doch da hat er wie immer keinen Erfolg. Dadurch, dass Quinn jetzt dabei ist, passen nicht alle ins Auto, sodass Mika, Alex und Liv zur Wand laufen. Helena und Quinn sitzen ganz hinten im Auto, neben mir sitzt Etienne, Ashley hat sich den Beifahrersitz gesichert. Sie hat ihr Handy an die Anlage angeschlossen und ich bin überrascht, dass nicht nur Shirin David läuft. Ashley singt gemeinsam mit Etienne bei den Liedern mit, während ich nur schmunzelnd aus dem Fenster schaue. Ich habe Lust aufs Klettern, auch wenn die Höhe mir wie immer etwas Bauchschmerzen beschert. Letztes Jahr habe ich zu den schnellsten an der Wand gehört und habe es relativ gut geschafft, nicht nach unten zu sehen. Ich kann es nicht lassen, mit einem Ohr auch das Gespräch zwischen Helena und Quinn zu belauschen. Sie reden über ihre Aufnahmeprüfungen und scheinen ganz in ihrem Element zu sein. Auf gewisse Weise sind sie echte Nerds, doch das macht Helena für mich nur noch niedlicher. Ich könnte ihr stundenlang dabei zuhören, wie sie Klavierstücke beschreibt und erklärt, was die Komponisten mit ihren Tönen erreichen wollen. Nachdenklich betrachte ich meine Handfläche, die nahezu vollständig verheilt ist. Ausnahmsweise werde ich wohl etwas vorsichtiger mit meinen Händen sein für den Rest des Sommers. Ich muss an meinen Vater denken und an die Werkstatt. Wenn ich an mein Zuhause denke, frage ich mich automatisch was nach diesem Sommer passieren wird. Ich betrachte die Bäume, an denen wir vorbeifahren und kapiere, dass nicht ewig alles so leicht sein wird. Jetzt gerade fühlt sich das mit Helena so leicht und gut an, doch bald wird es das nicht mehr sein. Bald wird sie versuchen, ihren Weg zu gehen und vermutlich werde ich dort nicht hineinpassen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, weiß ich, dass ich ihr intellektuell unterlegen bin. Sie wird auf einer Musikhochschule unter ihresgleichen sein und vermutlich wird sie dort viele neue Leute kennenlernen. Ich werde weiterhin in der Werkstatt arbeiten und mein Leben wahrscheinlich wie vorher weiterführen. Zum Glück werden meine Gedanken gestoppt, weil wir parken und aussteigen.

Wir tragen unsere Ausrüstung zur Wand und Etienne springt die ganze Zeit überdreht um uns herum. Die anderen sind ebenfalls schon da und Mika packt direkt mit an. Liv und Alex turteln miteinander, während Quinn und Helena noch immer in ihr Gespräch vertieft sind. Ich betrachte die Wand von unten und muss an die Olympiade denken. Ein ungutes Gefühl zieht durch meinen Bauch und ich spüre, dass ich gerade gerne reden würde. Ich erschrecke mich leicht vor mir selbst, weil ich so was wirklich noch nie vorher gedacht habe. Normalerweise komme ich sehr gut alleine mit all meinen Emotionen zurecht. Jetzt merke ich jedoch deutlich, dass ich Helena gerne für einen Moment in meiner Nähe hätte. Ich schaue kurz zu ihr, kapiere aber sofort, dass es dazu keine Chance geben wird. Ich kneife mir kurz in meinen Unterarm, um mir klar zu machen, dass ich mich gerade wie ein kleines Kind benehme. Ich werde wohl mit dieser Wand klarkommen, das kann ja nicht mein Ernst sein. „Bereit?", ruft Kyle mir zu und ich setze sofort ein selbstsicheres Grinsen auf. Ich nicke, bin aber froh, dass ich nicht als erstes Klettern muss. Mika und Etienne machen den Anfang und liefern sich direkt ein Kopf an Kopf Rennen. Etiennes Technik ist eindeutig besser, aber Mika ist größer und kann durch seine langen Arme einige Zentimeter bei jedem Griff herausholen. Schließlich schafft es Etienne einen Augenblick früher zu der Glocke, die wir oben an der Wand befestigt haben und jubelt direkt. Wir klatschen für die Beiden und Mika gibt sich gerne geschlagen. Liv und Ashley klettern als zweites, wobei Ashley mal wieder eine relativ dürftige Figur abgibt. Es ist trotzdem ziemlich cool, dass sie es versucht und dafür bekommt sie von uns auch einen Applaus. Kyle besiegt Alex mit Leichtigkeit und zeigt wie immer zu gern, wie gut er war. Wir wissen trotzdem alle, dass er es schwer haben wird, wenn er gegen Etienne antreten muss. Da Quinn und Helena nicht klettern möchten, habe ich keinen Gegner. Kyle kommt jedoch sofort mit breiter Brust zu mir und lacht: „Ich bin immer noch heiß." Ich brumme nur als Antwort und betrachte die Wand nochmal. Ich frage mich wirklich, warum ich dieses Jahr so ein Schisser bin. Sonst habe ich auch kein Problem damit, meine Angst herunterzuschlucken. Die anderen schauen mich erwartungsvoll an, während Kyle bereits seinen Gurt am Seil befestigt. Ich trage wie jedes Jahr den alten Gurt meines Bruders, der mir sonst immer Glück bringt, doch dieses Jahr scheint das nicht zu funktionieren. „Heute noch?", fragt Kyle auffordernd, doch ich bewege mich keinen Zentimeter. Ich spüre deutlich, dass alle mich anstarren, doch ausnahmsweise ist mein Selbstbewusstsein wie weggeblasen. „Angst oder was?", witzelt Kyle, sein Lachen wird jedoch von einer Stimme unterbrochen.

„Leg dich lieber mit wem deines Blutes an", ertönt es und im nächsten Moment tritt Helena neben mich. Kyles Augen weiten sich genauso wie meine und auch die anderen sehen verblüfft dabei zu, wie Helena sich einen Gurt umlegt. Sie schaut kurz zu mir und ihr Mundwinkel zuckt kurz aufmunternd. Sie macht es für mich, um mich zu beschützen. Ich bekomme sofort Gänsehaut und würde sie in diesem Moment am liebsten ganz fest in meine Arme ziehen. So sehr ich sonst darauf aus bin, ein Beschützer zu sein, fühlt es sich gerade doch unglaublich schön an, mal selbst unterstützt zu werden. Kyle hat sich mittlerweile von dem Schock erholt und sieht noch motivierter als vorher aus. „Du hattest lange Zeit kein Training", zischt er seiner Schwester zu, doch die wirkt ausnahmsweise überhaupt nicht schüchtern. Ihre Haltung ist aufrecht und voller Spannung, als wüsste sie genau was sie tut. „Gegen dich gewinne ich trotzdem im Schlaf", antwortet sie und verengt ihre Augen. Die beiden starren sich an und wir wissen alle, dass das ein gutes Rennen werden wird. Liv gibt das Startsignal und die beiden klettern gleichzeitig los. Kyle führt auf den ersten Metern dank seiner Größe und Kraft, doch schnell wird deutlich, wie gut Helena noch immer ist. Sie ist flink und ihre Technik schlägt die ihres Bruders um Längen. Wir anderen feuern sie alle an und jubeln, als Helena die Glocke als erste erreicht. Lachend reckt sie ihre Faust in die Höhe und ich muss breit lächeln. Sie ist wirklich einmalig und das beeindruckendste Mädchen, das ich kenne. Als sie wieder unten ist, klatschen alle mit ihr ab und Quinn nimmt sie kurz in den Arm. Ich gehe als letztes zu ihr und halte ihr meine Hand hin. Sie schlägt ein und für einen Moment sieht sie mir in die Augen. „Danke", forme ich leise mit meinen Lippen und sie lächelt leicht, als wäre es keine große Sache gewesen. „Kletterst du gegen mich?", fragt sie und überrascht mich damit ziemlich. Ich überlege kurz, doch schließlich muss ich schmunzeln und nicke. Die anderen freuen sich, dass Helena scheinbar wieder Spaß am Klettern hat. Sie wissen nicht, dass ihr Meinungswandel ziemlich viel mit mir zu tun hat. Wir befestigen unsere Gurte und Helena schaut grinsend zu mir herüber.

Ich nicke ihr zu, weil ich tatsächlich keine Angst mehr in mir fühle.

My hardest riseWhere stories live. Discover now