Kapitel 56

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Zum Glück sind die drei Jungs noch immer unten am See und ich kann mich zu Liv auf die Bank setzen, die mich sofort besorgt mustert. Mein Bruder zeigt ihr jedoch mit seinem Blick, dass alles gut ist, sodass sie mir einfach ein Getränk hinstellt und kurz über die Schulter streichelt. Yuna kommt aus dem Haus und ihr Blick trifft kurz meinen. Sie wirkt leicht gehetzt und sieht sich dann um, bis ihr Blick an ihrem Bruder hängen bleibt. Die drei kommen zu uns hochgelaufen und ich höre, wie Etienne über Klettern redet. „Du hast es genau verpasst, aber dieses Jahr hättest du auch endlich mal echte Konkurrenz gehabt", sagt er und zeigt dann auf mich. Yunas Bruder sieht mich an und der Bruchteil einer Sekunde, in der sich unsere Blicke treffen, reicht, um mich völlig fertig zu machen. Wieder schlägt mein Herz schneller und ich fühle mich schrecklich unwohl. „Das wäre sicherlich interessant geworden", sagt er und grinst leicht. Er hat eindeutig keine Ahnung, wer ich bin. Wenn ich es nicht besser wissen würde, würde ich sogar denken, er versuche mit mir zu flirten. Sein Grinsen ähnelt Yunas auf erstaunliche Weise und verwirrt mich total. Die guten Gefühle, die ich damit verbinde, vermischen sich mit schrecklicher Angst und Wut. Als alle am Tisch sind, räuspert Kyle sich und erklärt dann: „Leni wird morgen leider fahren, weil sie hier nicht die gleiche Ausstattung wie zuhause hat. Es fällt ihr nicht leicht, aber sie muss an ihre Zukunft denken. Ich würde sagen, dass wir noch einen schönen Abend heute zusammen verbringen." Die anderen sehen mich alle an und stimmen meinem Bruder dann zu. In den meisten Augen sehe ich etwas Bedauern, in Yunas sehe ich Verständnis. Ich bin mir fast sicher, dass sie weiß, was in mir vorgeht. Liv steht auf und sagt mir, dass sie heute für mich ein Nudelgericht zaubern wird und ich lächele sie dankbar an.

Kaum ist sie weg, setzen sich die anderen und Chiko läuft in meine Richtung, was meine Hände direkt zum Zittern bringt. Ich bekomme Panik, als er direkt neben mir steht und sich hinsetzen will. Mein Herz rast, ich will nur noch hier weg. Im letzten Moment drückt jemand den großgewachsenen Typen, der mir für immer Angst machen wird, an seiner Brust zurück. „Der Platz ist besetzt", ertönt Yunas Stimme und sie lässt sich neben mir nieder. Chiko schaut kurz von seiner Schwester zu mir, wobei ich seinem Blick direkt aus dem Weg gehe. „Los verschwinde", sagt Yuna mit Nachdruck und schließlich kommt er ihrer Aufforderung nach und setzt sich auf die andere Seite neben Alex. Mein Puls beruhigt sich wieder etwas und Yunas Duft umhüllt mich wie eine schützende Wand. Sie sitzt mit so viel Abstand wie es geht neben mir und mustert mich kurz prüfend. Ich kapiere mit einem Mal, dass sie jetzt wissen muss, warum ich in den letzten Tagen so komisch war. Sie muss denken, dass ich ihre Berührungen nicht mehr ertragen kann, obwohl das nicht die Wahrheit ist. Noch vorhin hätte ich sie am liebsten nie mehr losgelassen und ich weiß genau, dass ich ihr vertraue. Ohne weiter darüber nachzudenken, greife ich nach ihrer Hand, die zwischen uns auf der Bank liegt. Ich verschränke meine Finger mit ihren, was sie dazu bringt erstaunt aufzusehen. Ich brauche gerade dringender denn je eine Person, die an meiner Seite ist. Auch wenn er ihr Bruder ist, kann sie mich vielleicht heute Abend doch beschützen. Allein werde ich diesen Abend nicht überleben, da bin ich mir sicher. Die anderen beginnen, sich zu unterhalten und ich höre halbherzig zu. Yuna streichelt hin und wieder sanft mit ihrem Daumen über meine Finger und es beruhigt mich zumindest ein wenig. Beim Essen bekomme ich kaum etwas herunter und zwinge mich nur, weil ich Liv nicht enttäuschen will. Chiko redet viel mehr als Yuna und mir fällt schnell auf, dass sie sich weniger ähneln als ich dachte. Er gibt meistens dämliche Kommentare ab wie mein Bruder, die beiden scheinen sich blendend zu verstehen. Allerdings ist es erstaunlich wie ähnlich die Gestik und Mimik der Geschwister ist, was mich vollkommen fertig macht. Es fällt mir schwer meine Gefühle irgendwie einzuordnen und mein Unwohlsein wird nicht weniger. Am liebsten würde ich einfach in mein Zimmer gehen, unter meine Decke und weinen.

Nach dem Essen spielen die Jungs und Ashley Fußball, sodass ich mich nochmal ans Klavier setzen kann. Liv werkelt in der Küche herum und summt hin und wieder bei meiner Melodie mit. Ashley sitzt draußen mit Alex, der noch Muskelkater vom Klettern hat und deshalb keine Lust hat mitzuspielen. Als ich zwischendurch ein paar Minuten Pause mache und mit Quinn schreibe, kommt Yuna rein und zögert, als sie mich sieht. Sie scheint zu überlegen, einfach weiterzugehen, kommt dann aber doch langsam auf mich zu. Vorsichtig kniet sie sich vor mich und sieht mir besorgt in die Augen. „Alles okay?", fragt sie leise, sodass Liv es gar nicht mitbekommt. Ihr Blick verrät mir, dass sie tatsächlich weiß, was in mir vorgeht. Ich weiß nicht, ob es ihre Absicht ist, durch das Knien weniger bedrohlich zu wirken, doch es funktioniert definitiv. Für einen Moment sehe ich in ihr nicht ihren Bruder, sondern das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Ich nicke langsam und streiche kurz mit meinen Fingern über ihre Wange. „Es tut mir leid, dass ich nicht ehrlich war und dass ich gehe", flüstere ich, doch Yuna schüttelt sofort ihren Kopf. Sie hält mir ihren Zeigefinger hin und haucht: „Zwischen uns ist alles okay." Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen, doch es ist getrübt von den Tränen in meinen Augen, als ich meinen Zeigefinger mit ihrem verschränke. „Ich beschütze dich, Leni", flüstert Yuna und mein Herz wird warm bei ihren Worten. Sie ist viel mehr als ich verdient habe und es tut mir weh, dass ich ihr nichts zurück geben kann außer ein Danke. „Du wirst sie alle umhauen", sagt sie mit dem Blick auf dem Klavier, sieht mich dann nochmal an und schenkt mir ein warmes Lächeln. Dann löst sie ihren Finger aus meinem, steht auf und läuft in Richtung Küche. Nachdenklich drehe ich mich wieder zum Klavier und streiche über die Tasten. Ich versuche das starke Gefühl in mir zu verdrängen, dass ich Yuna schrecklich vermissen werde. Ich muss mich auf meine Zukunft konzentrieren und den Sommer vergessen. Es kann keine Zukunft für uns geben, nicht mit der Angst, die noch immer in mir ist.

POV Yuna

Den ganzen Abend versuche ich darauf zu achten, dass mein Bruder nicht in Helenas Nähe kommt. Beim Lagerfeuer sitze ich neben ihm und immer wieder überkommt mich innerlich die Wut. Ich kann noch immer nicht fassen, dass er so ein Arschloch sein kann. Ich habe nicht viel von ihm erwartet, aber das ist eine ganz neue Stufe. Mein Vater würde ihn umbringen, wenn er davon erfahren würde und eigentlich sollte ich das auch machen. Jedes Mal, wenn ich Helena ansehe, ist mir zum Weinen zumute. Die Vorstellung, dass mein Bruder mein Mädchen so sehr verletzt hat, zerreißt mich innerlich. Gleichzeitig macht es mich unendlich traurig, dass Helena morgen früh weg sein wird und ich sie nicht wiedersehen werde. Nachdem sie von meinem Bruder weiß, ist eine Zukunft für uns beide vermutlich keine Option mehr. Ich würde nie auf die Idee kommen, sie nochmal anzufassen, wenn es für sie wohl eindeutig eine Qual ist. Ich wünschte, ich hätte es vorher gewusst und ihr nie dieses Gefühl gegeben. Nie würde ich ihr vorwerfen, dass sie mich verlässt, es ist ihr gutes Recht. An ihrer Stelle würde ich auch keine Sekunde länger als nötig hierbleiben. Wenn ich sehe, wie Kyle mit meinem Bruder Witze kloppt, wird mir fast schlecht. Alles wäre anders, wenn die Wahrheit ans Licht kommen würde. Keiner hier würde meinem Bruder so etwas verzeihen und ich weiß auch nicht, wie ich es schaffen soll. Er ist schließlich immer noch mein Bruder. Der Abend wird für die anderen vermutlich wirken wie jeder andere, doch ich bin sehr froh, dass er nicht genauso lange dauert. Helena verabschiedet sich irgendwann ins Bett und lässt sich dabei auch nicht von den Protesten der anderen aufhalten. Wir anderen bleiben noch etwas länger am Lagerfeuer, doch irgendwann dezimiert sich die Gruppe immer mehr. Ich bleibe wach, bis ich sicher bin, dass Chiko bei den Jungen im Zimmer liegt und lausche auch im Bett noch darauf, ob ich irgendein Geräusch höre. Ich weiß, dass es mich erleichtern und gleichzeitig frustrieren wird, wenn Helena morgen geht. Ausnahmsweise ist mir wichtiger, wie sie sich fühlt und nicht, ob es mir gut oder schlecht damit geht. Ich halte meine Kette fest in meiner Hand und schließe die Augen. Zumindest weiß ich jetzt, dass ich nie der Grund für Helenas Verhalten war und sie mich doch gern hat. Sie hat mich geküsst, obwohl sie es wusste und sie hätte vermutlich sogar mit mir geschlafen. Ich bin mir sicher, dass ich ihr wichtig bin, aber das bringt leider nicht viel.

Meine Familie ist verkorkst und wieder einmal macht dieser Fakt alles kaputt.

My hardest riseWhere stories live. Discover now