Kapitel 2

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Mein Handy vibriert und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Als ich es aus meiner Hosentasche krame, erkenne ich eine Nachricht von Alex. Alex ist der Sohn der besten Freundin meiner Mutter, die meine Patentante ist, also ist er quasi mein Cousin. Wir haben uns schon immer gut verstanden und waren als kleine Kinder die besten Freunde. Mittlerweile sehen wir uns nur noch selten, weil er in einer anderen Stadt Physik studiert. Er schreibt, dass er sich riesig freut, dass wir uns diesen Sommer so viel sehen werden. Verwirrt frage ich ihn, wie er das meint. Ich wusste nicht mal, dass er viel zuhause sein wird, geschweige denn, dass wir uns sehen könnten. Er antwortet sofort und ich kann nicht glauben, was er da schreibt. Sofort stehe ich auf und laufe mit schnellen Schritten hinaus aus meinem Zimmer und die Treppe herunter. In der Küche treffe ich auf meine Mutter, die gerade dabei ist, Kartoffeln zu schälen. Mit Empörung in der Stimme frage ich sie: „Warum schreibt Alex, dass er sich darauf freut, mich im Ferienhaus zu sehen?" Ein kleines Lächeln umspielt die Lippen meiner Mutter und sie greift nach der nächsten Kartoffel. Während sie einige Stellen der Schale entfernt, meint sie: „Ich habe erzählt, dass du dieses Jahr mitfährst." Sofort schüttele ich den Kopf: „Auf keinen Fall." Ich werde ganz sicher nicht mit Kyle und seinen halbstarken Freunden einen Partyurlaub in der Pampa machen. Meine Mutter seufzt, legt die Kartoffeln für einen Moment weg und tupft ihre Finger mit einem Handtuch ab. „Dein Vater und ich haben es besprochen und die Entscheidung steht", sagt sie ruhig und macht mich damit nur noch wütender. „Warum solltet ihr das entscheiden dürfen?", gebe ich patzig von mir. Doch meine Mutter behält weiterhin die Ruhe und erwidert: „Weil du schließlich möchtest, dass wir deine musikalische Ausbildung weiterhin finanzieren." Entsetzt weiten sich meine Augen, ist das ihr Ernst? Sie will mich wirklich damit erpressen, meinen Unterricht nicht mehr zu bezahlen? Wütend balle ich meine Hände zu Fäusten: „Das kannst du nicht ernst meinen." Sie seufzt und will mir ihre Hand auf die Schulter legen, doch ich weiche ihr aus. „Komm schon, Schatz. Du wirst in deinem Leben noch so viel lernen und spielen können. Du solltest ein einziges Mal noch raus aus deiner Routine und einfach Spaß haben." Ich verdrehe die Augen und grummele: „Das ist kein Spaß für mich."

Bevor meine Mutter antworten kann, höre ich Schritte hinter mir und die Stimme meines Bruders: „Spaß und Helena? Das passt nicht zusammen." Ich bin mir sicher, dass er den Rest des Gespräches nicht mitbekommen hat. Also drehe ich mich um und verkünde: „Ich komme übrigens mit euch ins Ferienhaus." Das lässige Grinsen im Gesicht meines Bruders verrutscht leicht und sein Blick wandert von mir zu unserer Mutter. „Im Ernst?", fragt er verwirrt und definitiv nicht erfreut. Ich kenne meinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er mich nicht dabeihaben will. Er denkt zwar auch, dass ich mehr rausgehen sollte, aber das heißt nicht, dass es mit seinen Freunden zu tun haben sollte. Ich hoffe, dass er meine Mutter vielleicht davon überzeugen kann, dass die ganze Sache eine schlechte Idee ist. „Ich werde ganz sicher nicht den Babysitter spielen", redet er auf sie ein und die beiden fangen an zu diskutieren. Seufzend stelle ich mich vor unser Aquarium und betrachte unsere Fische, denen ich früher allen Namen gegeben habe. Wenn ich an den See denke, wird mir ganz schlecht. Ich will nicht wochenlang in der Natur sein, in der jeder Ast meine Hände verletzen kann. Natürlich hat sich über die Zeit die Haut meiner Hände verändert und es ist nicht mehr so leicht, sie zu verletzen. Die hunderten Stunden am Klavier haben sie robust werden lassen, aber ich bin trotzdem nicht geschützt davor, mich zu verletzen. Wenn ich mir einen Finger breche, kann es dauern, bis ich ihn wieder richtig benutzen kann. Kyle kommt fast jedes Jahr mit irgendwelchen Blessuren wieder und ich würde mit meiner Ungeschicklichkeit sicher noch mehr davontragen. „Sie passt sicherlich besser in eure Gruppe als du denkst. Du weißt, dass sie immer besser geklettert ist als du", höre ich meine Mutter sagen und ein Schauer fährt über meine Rücken. Es war eigentlich vorhersehbar, dass sie diese Karte ziehen würde. Bis ich sechzehn geworden bin, bin ich mit Begeisterung geklettert. Sie hat auch Recht damit, dass ich immer besser darin war als Kyle, aber trotzdem ist es ein sinnloser Vergleich. Ich werde nie wieder eine Kletterausrüstung in die Hand nehmen, nicht mal meinen Eltern zuliebe. Für sie ist es bis heute ein Rätsel, dass ich das Klettern so plötzlich aufgegeben habe, aber es hatte seine Gründe. Die Beiden diskutieren weiter, doch schließlich gibt Kyle genervt nach und kommt zu mir. „Wehe, du blamierst mich", raunt er mir zu, woraufhin ich nur mit den Augen rolle. Ja, für dich ist diese Situation natürlich schlimmer als für mich. Meine Mutter wendet sich nochmal mir zu, nachdem mein Bruder wieder hochgegangen ist. „Wir meinen es wirklich gut", sagt sie und lächelt fürsorglich, „und wenn es nichts für dich war, ist es auch okay. Wir werden dich danach voll und ganz bei allem unterstützen." Erstaunt sehe ich sie an, damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Eltern bezahlen zwar schon immer meine Unterrichtsstunden, doch gerade in den letzten Jahren haben sie meine Leidenschaft manchmal kritisch gesehen. Das Angebot, mich voll zu unterstützen ist ziemlich reizvoll, auch wenn ich dafür den Sommer mit den idiotischen Freunden meines Bruders verbringen muss. „Schlaf eine Nacht drüber, sie fahren erst übermorgen", sagt meine Mutter noch und wendet sich dann wieder ihren Kartoffeln zu. Nachdenklich laufe ich die Treppe hoch in mein Zimmer und betrachte meinen Flügel. Volle Unterstützung ist genau das, was ich nach dem Sommer brauche. Allerdings bräuchte ich auch die nächsten Wochen, um mein Spiel noch mehr zu verbessern. Seufzend streiche ich über das Holz des Instruments und muss an meine Oma denken. Ich erinnere mich daran, wie sie mir immer die einzelnen Stücke erklärt hat und mir mit ihren Worten Bilder gemalt hat. Sie liebte die Natur und empfand die Musik immer als ein Medium, das sie mit der Natur verbinden konnte. Vielleicht hätte sie die Idee meiner Mutter sogar gut gefunden.

My hardest riseOnde histórias criam vida. Descubra agora