Kapitel 60

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POV Yuna

„Gute Arbeit, mach ruhig Feierabend", sagt mein Vater, nachdem ich ein Auto fertig habe. Ich weiß bis jetzt nicht, was Chiko ihm gesagt hat, doch er war keine Sekunde wütend auf mich. Längst bin ich wieder in meinem Alltag angekommen, der nur aus Arbeit besteht. Es lenkt mich davon ab, dass ich meine Freunde verloren habe und vielleicht auch das Mädchen, das mir am meisten auf der Welt bedeutet. Etienne hat mehrmals probiert, mit mir zu sprechen, doch ich wollte es ihm nicht erzählen. Es müssen nicht noch mehr Menschen erfahren, was mein Bruder für ein Arschloch ist. Letztendlich ist er wieder weg an seiner Uni und schreibt mir nur gelegentlich. Dann führen wir Smalltalk, weil ich jedem ernsten Thema aus dem Weg gehe. Liv hat mir auch mehrmals geschrieben, doch ich habe kaum darauf reagiert. Von Kyle und Ashley habe ich genauso wenig gehört, wie von meinem Bruder, der nach dem Familientreffen direkt wieder gefahren ist. Es ist besser so, doch trotzdem lässt es mich nicht kalt. Wie sollte es auch? Es war immer leicht, vorzugeben, mich würde niemand erreichen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich wohl viel sensibler als alle denken. Bevor ich Helena kennengelernt habe, konnte ich alle Menschen immer leicht von mir weisen. Ich konnte mich immer mit meiner Trauer und Einsamkeit vor anderen verstecken, doch sie hat meine Mauer mit Leichtigkeit eingerissen. Wie hätte ich gegen ihr Lächeln und gegen ihre Art, mir so schnell zu vertrauen, auch ankommen sollen. Sie fehlt mir schrecklich, doch die Hoffnung, dass es ihr besser geht, macht es erträglicher.

Ich laufe zum Tresen und wasche meine Hände, als ein Kunde mit seinem Auto in die Werkstatt fährt. Ein Mann steigt aus und läuft direkt zu meinem Vater, um sich mit ihm zu unterhalten. In Gedanken putze ich meine Finger und zucke zusammen, als jemand meinen Namen sagt. Ich sehe auf und erkenne Quinn, die aus der Beifahrerseite des Autos ausgestiegen ist. Sie lächelt mich nett an und ich erwidere es direkt. Es freut mich tatsächlich, jemanden zu sehen, der mich möglicherweise noch leiden kann. Sie will mich umarmen, doch ich gehe schnell einen Schritt zurück und reiche ihr meinen Ellenbogen, weil ich voller Öl bin. Grinsend erwidert sie die Begrüßung und meint: „Mein Vater schleppt mich immer bei solchen Sachen mit, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich hier treffe." Ich schmunzele und schnappe mir ein Handtuch für meine Hände. „Hat Helena dir nicht erzählt, dass ich hier arbeite?", frage ich und Quinn schüttelt den Kopf. Sie verzieht leicht ihr Gesicht und gibt zu: „Ehrlich gesagt, bist du ein ziemliches Tabuthema." Ich nicke nachdenklich, das habe ich mir nicht anders vorgestellt. Trotzdem tut es mir weh, doch ich versuche es nicht zu zeigen. „Wie geht's dir? Wie läuft die Vorbereitung fürs Vorspielen?", frage ich und Quinn scheint kurz überrascht zu sein, dass ich mich dafür interessiere. Als sie bei uns am See war, hatten wir nicht viele Möglichkeiten, miteinander zu reden. Vermutlich hält sie mich für so kühl wie jeder andere, der mich nicht gut kennt. Wer könnte es ihr verdenken. „Ich habe ein gutes Gefühl, bei mir geht es schon nächste Woche los. Helena ist erst eine Woche später dran und sie tut im Grunde nichts anderes, als zu üben." Ich lächele leicht und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie gerne ich noch viel mehr über sie hören würde. „Ihr schafft das bestimmt", sage ich und Quinn lächelt sofort breit. Dann wird sie kurz ernster und lehnt sich auf den Tresen dichter zu mir. „Helena wird es dir vermutlich nicht mehr sagen, aber ich finde, du solltest es hören. Du warst genau das, was sie gebraucht hat. Egal, was andere denken, für mich bist du eine von den Guten." Automatisch verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln und ich nicke ihr dankbar zu. Es bedeutet mir viel, dass sie das sagt. Denn noch immer hadere ich mit mir selbst und bereue vieles, das ich im Sommer getan habe. Mein Vater und Quinns Vater kommen zu uns, weil das Auto scheinbar fertig ist. „Wir sehen uns", verabschiedet sich Helenas beste Freundin von mir und ich lächele ihr hinterher, als sie ins Auto steigt. In den letzten Wochen habe ich viel über den Sommer nachgedacht. Ich habe viele Tage damit verbracht, mir selbst Vorwürfe zu machen oder sauer auf meinen Bruder zu sein. Es war einfacher, ihn für meine Probleme verantwortlich zu machen, als mich mit meinen Gefühlen auseinander zu setzen. Quinns Auftauchen bringt mich wieder zum Nachdenken und wühlt mich innerlich auf. Wie soll ich es je schaffen, Helena zu vergessen? Das eine Mädchen, das mir nicht egal war. Das eine Mädchen, das mir so sehr unter die Haut gegangen ist. Quinn hat mir das Gefühl gegeben, dass ich vielleicht nicht alles falsch gemacht habe. Vielleicht war ich auf meine eigene komische Weise kurz jemand, der Helena verdient hatte.

Den ganzen Abend erinnere ich mich immer wieder an ihre Worte und es geht mir seit Wochen mal wieder etwas besser.

My hardest riseWhere stories live. Discover now