Kapitel 59

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POV Helena

„Das klingt wirklich schön", meint meine Mutter und stellt mir ein Glas Wasser neben mein Klavier. Sie lauscht mir in den letzten Tagen häufig und es stört mich nicht mehr so wie früher. Wenn ich spiele, werden meine Gedanken leiser und ich schaffe es, mich leichter zu fühlen. Die Wände meines Zimmers scheinen mich dann für einen Moment nicht zu erdrücken. Kyle ist seit drei Tagen wieder zuhause und hat seitdem kaum ein Wort mit mir gewechselt. Er wirkt aufgekratzt und hat direkt als er heimkam, irgendetwas in seinem Zimmer zerrissen. Sonst ist er nach dem Sommer meistens super gelaunt und erzählt uns tausende Geschichten, doch diesmal wirkt er wütend und ausgelaugt. Ich setze mich auf meine Couch und trinke einen Schluck Wasser, als mein Handy vibriert. Es ist eine Nachricht von Quinn, in der sie schreibt, dass wir uns sehen müssen, weil sie jemanden kennengelernt hat. Ich muss leicht schmunzeln und scrolle dann durch meine Kontakte. Wie so oft bleibt mein Finger an Yunas Namen hängen und ich klicke auf ihr Profilbild. Es zeigt sie mit einem Basecap auf der Ladefläche eines Jeeps sitzend und ich habe es mir in den letzten Wochen so oft angesehen, dass ich jeden Pixel kenne. Oft hatte ich den Drang in mir, ihr zu schreiben, doch letztendlich habe ich es doch gelassen. Ich vermisse sie sehr, doch ich weiß, dass ich uns beiden nur wehtue, wenn ich mich bei ihr melde. Ich übe von morgens bis abends, um mich abzulenken und meistens funktioniert es ganz gut.

Als ich Kyle drüben mal wieder höre, wie er auf seinen Boxsack einschlägt, halte ich es nicht mehr aus und laufe rüber zu seiner Zimmertür. Ohne anzuklopfen, laufe ich hinein und sehe, dass er wie wild auf den Sack drescht und total verschwitzt ist. Irgendetwas scheint mit ihm absolut nicht in Ordnung zu sein. Vorsichtig gehe ich zu ihm und fasse ihm auf die Schulter, was ihn aus seiner Trance holt. Er zuckt zusammen und hört schweratmend auf, weiter zu boxen. Er sieht mich nur kurz an und wischt sich dann den Schweiß von der Stirn, während er nach seiner Wasserflasche greift. „Was ist los?", frage ich, doch er winkt direkt ab. Seufzend setze ich mich zu ihm aufs Sofa und ziehe eine Augenbraue hoch: „Los, sag schon." Genervt reibt mein Bruder sich über seinen Bartansatz und überlegt kurz. Dann seufzt er und sieht mir in die Augen: „Was ist damals wirklich passiert, Leni?" Verdutzt runzele ich die Stirn und mein Herz beginnt sofort, schneller zu klopfen. Weiß er etwa von Chiko? „Ich habe dir alles gesagt", stottere ich unsicher und sehe sofort, dass mein Bruder leicht gereizt ist. Seine Muskeln spannen sich an, als er flüstert: „Ich weiß, was sie dir angetan haben." Verwirrung macht sich in mir breit, wen meint er damit? Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass er auch von mir und Yuna erfahren haben muss. „Kyle, sie hat mir nie etwas angetan", sage ich, doch mein Bruder scheint es gar nicht wahrzunehmen. „Und ich habe zugelassen, dass sie in deine Nähe kommen", murmelt er mehr zu sich selbst und rauft sich die Haare. Er wirkt, als würde er sich die komplette Schuld an meinem Leid geben und es tut mir innerlich weh. Ich lege meine Hand auf sein Bein und flüstere: „Es ist lange her, es geht mir gut. Es tut mir leid, dass ich nie etwas gesagt habe, ich wollte euch keine Sorgen bereiten." Tränen steigen in die Augen meines Bruders und er greift nach meiner Hand. „Ich hätte dich doch beschützen können", schluchzt er und es ist das erste Mal, dass ich meinen Bruder so fertig erlebe. „Ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen", flüstere ich und füge schnell hinzu: „Und Yuna hat mir nie etwas getan." Verzweifelt schaut mein Bruder auf und runzelt die Stirn: „Warum verteidigst du sie noch?" Es passt zu Kyle, dass er in mir nur das kleine Mädchen sieht, dass von allen umhergeschubst wird. „Weil sie nichts falsch gemacht hat", erwidere ich und merke, dass mein Bruder sauer wird. „Natürlich hat sie das, sie hat mit dir geschlafen", sagt er abwertend und ich kann mir in etwa vorstellen, wie die beiden auseinander gegangen sein müssen. Ich weiß, dass es schwer wird für meinen Bruder, meine nächsten Worte zu hören, doch ich muss sie sagen: „Ja, aber ich wollte es." In den Augen meines Bruders verändert sich etwas und er scheint zum ersten Mal zu kapieren, dass ich vielleicht nicht nur ein Opfer bin. „Aber...", fängt er an, doch verstummt dann wieder. Er wirkt, als würde er die Welt nicht mehr verstehen und tut mir ziemlich leid. Das Bild von ihm und Yuna hängt nicht mehr an seiner Wand.

Ich schlucke und gebe etwas zu, das ich schon viel früher hätte sagen müssen: „Ich bin in sie verliebt, Kyle." Die Augen meines Bruders weiten sich schlagartig und sein Mund klappt erstaunt auf. Die Anspannung verlässt seinen Körper und statt Wut, steht nur noch Verblüffung in seinem Gesicht. Einige Sekunden lang sagt er gar nichts und starrt mich nur an. Dann runzelt er die Stirn und fragt: „Wie lange lief das zwischen euch und warum habe ich nichts davon mitbekommen?" Ich muss leicht lächeln, weil ich es schön finde, dass er sich scheinbar wirklich dafür zu interessieren scheint. „Fast von Anfang an und ich wollte nicht, dass du es weißt. Ich hatte selbst keine Ahnung, was mit mir passiert. Ich hätte doch nie damit gerechnet, dass sie mir so wichtig werden könnte." Mein Bruder schüttelt immer noch verblüfft den Kopf und muss leicht schmunzeln: „Ich fasse es echt nicht." Er sieht mich an und ich werde mal wieder rot, weil mir meine Gefühle peinlich sind. Kyle lacht leicht und murmelt: „Da laufe ich so lange einem Mädchen nach und meine Schwester braucht nur wenige Wochen, um sie sich zu klären." Ich muss leicht grinsen, doch dann denke ich daran, wie Yuna und ich auseinander gegangen sind und seufze. „Es ist jetzt aber auch egal", meine ich und richte mich etwas auf. Kyle wirkt jedoch immer noch nachdenklich und murmelt vor sich hin. „Liv hatte Recht, du bist nur wegen ihr wieder geklettert." Wieder laufe ich rot an und reibe mir mit meiner Hand nervös über meine Stirn. „Weißt du, so genau müssen wir jetzt auch nicht drüber reden", sage ich, stehe auf und will rausgehen. Kyle greift jedoch schnell nach meiner Hand und zwingt mich, ihn anzusehen.

„Er wird dir nie wieder wehtun, Leni", sagt er mit Nachdruck und in seinen Augen sehe ich, wie ernst er es meint. Ich nicke dankbar, bin dann aber ganz froh, als ich wieder in meinem Zimmer bin. Nie zuvor habe ich so offen mit meinem Bruder gesprochen. Ich hätte aber auch nie gedacht, dass er verständnisvoll reagieren würde.

My hardest riseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt