Kapitel 24

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„Lass uns schwimmen gehen", sagt Liv irgendwann und Yuna grinst sofort. Alex scheint auch dabei zu sein, doch mir hat meine eine Entblößung heute gereicht. Obwohl es ziemlich dunkel am See ist, würde ich mich nicht wohlfühlen, da bin ich mir sicher. Yuna sieht mich an und scheint zu bemerken, was mit mir los ist. „Geht ruhig, ich bleibe mit ihr hier", sagt sie und schnappt sich noch ein Bier. Liv zuckt nur die Achseln und läuft hinter Alex her runter zum See. „Du musst nicht hierbleiben", sage ich zu Yuna, weil es mir unangenehm ist. Ich will nicht das Problemkind sein, auf das aufgepasst werden muss. Obwohl trotz der Situation vorhin keine komische Stimmung zwischen uns ist, will ich trotzdem keine Zeit alleine mit Yuna verbringen. Sie löst etwas in mir aus, dass mich überfordert und dass ich nicht kontrollieren kann. Ein Teil von mir ist neugierig und will wissen, was es bedeutet, doch ein anderer Teil hat Angst und will aus der Situation entfliehen. „Stört mich nicht", meint Yuna und trinkt einen Schluck aus ihrer Flasche. Sie stochert mit einem Stock in der Glut des Feuers herum und sieht mich dann an.

Sie lächelt leicht und meint: „Du hast eine schöne Stimme." Sofort verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln und ich spüre, wie ich rot werde. Ich kann kein bisschen mit Komplimenten umgehen, obwohl es mich auch freut, dass sie das sagt. „Werde ich dich jemals spielen hören?", fragt sie und ich spanne mich automatisch leicht an. Ich spüre genau in mir, dass ich noch nicht bereit dazu bin, vor anderen Menschen zu spielen. Also schüttele ich langsam den Kopf, auch wenn ich damit riskiere, dass sie mich für verklemmt hält. Vielleicht denkt sie auch, dass ich gar nicht wirklich gut spielen kann. „Nicht mal, wenn ich es mir wünsche?", meint Yuna und lächelt mich auf eine Weise an, die mich definitiv nicht kalt lässt. Mein Bauch kribbelt leicht und es fällt mir deutlich schwerer, ihre Frage zu verneinen. Sie ist sich bewusst, wie sie meine Wand durchbricht und das macht mir Angst. Warum habe ich den Drang in mir, mich ihr zu öffnen und ihr meine Gedanken mitzuteilen. Ich kenne sie kaum und sie ist wohl der letzte Mensch, der meine Probleme verstehen könnte. Um abzulenken, frage ich völlig außer Kontext: „Was studierst du eigentlich?" Schmunzelnd geht Yuna über meinen offensichtlichen Ablenkungsversuch hinweg und schaut wieder aufs Feuer: „Ich bin Mechanikerin. Mein Vater hat eine eigene Werkstatt und ich bin Mitinhaberin." Ich stelle mir vor, wie Yuna mit einem Schraubenzieher an Gegenständen herumwerkelt und muss lächeln, weil es wirklich gut zu ihr passt. Mein Blick fällt auf ihre Hände und ich frage mich, warum sie nicht besser auf sie aufpasst. Vielleicht sind wir gar nicht so verschieden, ihre Hände sind ebenfalls ihre Werkzeuge. Sie bemerkt meinen Blick und setzt sich mehr in meine Richtung, um mir ihre Hand hinzuhalten. „Ich habe mir schon drei Mal mein Handgelenk gebrochen", erklärt sie und zeigt mir eine kleine Narbe an ihrem linken Handgelenk. Ich runzele die Stirn und frage: „Was war mit deiner Arbeit?" Ohne darüber nachzudenken, greife ich nach ihrer Hand und streiche vorsichtig über die kleine Narbe. Ich betrachte die Haut ihrer Finger, man sieht ihr an, wie viel sie in ihrem Alltag mit ihren Händen arbeitet. An ihrem Mittelfinger trägt sie einen dünnen Ring, der im Schein des Feuers leicht schimmert. „Was die Hand einmal lernt, das verlernt sie nicht mehr so leicht", sagt Yuna und streicht mit ihrem Daumen sanft über meinen Handrücken. „Meine Hände sind zwar wichtig für meinen Job, aber sie sind sicher nicht so besonders wie deine", fügt sie hinzu und bringt mich damit leicht in Verlegenheit. Ich sehe auf in ihre Augen und sehe darin wieder den Schimmer von vorhin. Ich spüre, wie in mir wieder der Drang aufkommt, ihr näher sein zu wollen. Ihre braunen Augen sind voller Wärme und ich habe das Gefühl, sie steht ausnahmsweise nicht so über den Dingen wie sonst. Sie wirkt nahbar und ich frage mich in diesem Moment, wie alt sie wohl ist. Ihre Augen haben etwas Junges, Wildes an sich, doch wenn sie bereits die Werkstatt mit ihrem Vater führt, muss sie mindestens Mitte zwanzig sein. „Sie sind sicherlich geschickter als meine", sage ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, um auf meine Ungeschicklichkeit anzuspielen. Yuna grinst und hält ihre Hand gegen meine, sodass zu erkennen ist, dass meine Finger kürzer sind als ihre. „Vielleicht können wir das irgendwann testen", sagt sie und ihre Augen funkeln dabei auf eine ganz bestimmte Weise. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass ich mir den flirtenden Unterton nicht einbilden kann. Irgendwie möchte ich mehr über sie wissen, weil sie mich seit dem ersten Moment fasziniert hat, in dem ich sie gesehen habe. „Was macht deine Mutter, wenn ihr den ganzen Tag in der Werkstatt seid?", frage ich und wie auf Knopfdruck verschwindet das Funkeln aus Yunas Augen. Sie zieht ihre Hand aus meiner und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, um einen Schluck zu trinken. Dann sieht sie ins Feuer und murmelt: „Es ist spät, vielleicht sollten wir hochgehen." Ich merke deutlich, dass sie gerade ähnlich verschlossen ist, wie ich es schon den ganzen Urlaub lang bin. Bei ihr ist das jedoch etwas Ungewöhnliches, wo sie bisher doch sehr offen und selbstbewusst war. Ich mustere sie und wüsste gerne, was ich sagen kann, um ihr wieder näher sein zu können. Allerdings würdigt sie mich keines Blickes mehr und zeigt mir eindeutig, dass sie keine Lust mehr hat, zu reden. Ob ihre Mutter nicht mehr bei ihnen lebt? Vermutlich geht es mich nichts an und es ist ihr gutes Recht, so zu reagieren. Ich würde nicht anders reagieren, wenn sie meine Narbe ansprechen würde. Also beschließe ich, ihr ihren Freiraum zu lassen und stehe auf. Um ihr zu zeigen, dass für mich zwischen uns alles gut ist, beuge ich mich zu ihr und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. „Schlaf gut, Sagi-Shi", flüstere ich ihr zu und lasse sie dann allein.

Als ich die Treppe hochgehe, wundere ich mich über meinen plötzlichen Mut in ihrer Nähe. Die Tatsache, dass sie mir vielleicht ähnlicher ist als ich dachte, ermutigt mich ziemlich. Ich denke daran, wie ich sie am Morgen der Olympiade in ihrem Zimmer stehen gesehen habe. Vielleicht hat diese Kette, die sie schon mehrmals in der Hand gehalten hat, etwas mit ihrer Mutter zu tun. Ich beschließe, dass es mein Ziel für dieses Urlaub sein soll, Yunas Vertrauen zu gewinnen. Selbst wenn ich mich dafür womöglich auch öffnen muss, so schwer es auch sein wird.

My hardest riseWhere stories live. Discover now