Kapitel 41

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Meine Eltern bleiben noch zum Essen und Liv zaubert wie immer für alle. Das Abendessen ist weniger entspannt als sonst, weil Kyle weniger blöde Witze reißt und die anderen auch etwas weniger locker sind. Meine Mutter macht mich mit ihrer alleinigen Anwesenheit wütend, sodass ich ihr möglichst deutlich zeige, wie blöd ich es hier finde. Es ist zwar eine glatte Lüge, aber ich will ihr einfach nicht Recht geben müssen. Wie immer behandelt sie mich wie ein kleines Kind und gibt mir das Gefühl, ich wüsste selbst nicht, was gut für mich ist. Als ich mit ihr zusammen den Tisch abräume, meint sie: „Vielleicht war es keine gute Idee, dich mit herzuschicken." Ich verdrehe die Augen und stelle die Teller auf der Spüle ab: „Das hätte ich dir auch vorher sagen können." Meine Mutter seufzt und betrachtet mein altes Klavier nachdenklich. Ich sehe förmlich, wie sie sich das kleine Mädchen zurückwünscht, das ich damals war. Manchmal wünschte ich auch, dass ich wieder dieses Mädchen wäre. „Deiner Oma hätte die Idee gefallen", murmelt sie und weiß genau, dass sie damit einen wunden Punkt bei mir trifft. Ich balle meine Hände zu Fäusten und zische: „Lass sie da raus." Das Verhältnis zu meiner Mutter hat in den letzten Jahren wirklich gelitten, aber ich kann nichts daran ändern. Sie will Dinge von mir, die ich einfach nicht geben kann. „Helena, wir sind nicht hier, um euch zu überwachen oder weil wir solche Sehnsucht hätten", sagt sie und ich runzele verwirrt die Stirn. Meine Mutter seufzt und meint: „Du hast die Einladung für das Vorspielen. Wir sind hier, um dich zu holen, du bist erlöst." Meine Augen weiten sich und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe tatsächlich die Möglichkeit, meinen Traum zu verwirklichen. Bevor ich es richtig realisieren kann, kommen Liv und Yuna mit mehr Geschirr durch die Tür und lachen über irgendetwas. Mein Herz klopft schneller, wenn ich mit meinen Eltern fahre, kann ich Yuna nicht mehr besser kennenlernen. Ein schlechtes Gefühl zieht durch meinen Bauch und ich weiß nicht, wie ich es loswerden soll. Ich kann meinen Traum auf keinen Fall aufgeben. „Alles klar?", fragt Liv, als sie mich und meine Mutter sieht und ich nicke sofort. Ich fahre mir über mein Gesicht und murmele dann eine Entschuldigung, um hoch in mein Zimmer zu laufen.

Dort laufe ich gestresst hin und her und weiß nicht, was ich denken soll. Vor einigen Wochen wäre diese Nachricht das einzige gewesen, was mich glücklich gemacht hätte. Jetzt jedoch weiß ich nicht, ob ich hier wirklich wegwill. Die letzten Tage habe ich mich so frei gefühlt, noch freier als am Klavier. Ich muss dieses Stipendium bekommen, um das Erbe meiner Oma zu ehren. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich vor gefüllten Hallen spiele. Meine Gedanken werden davon unterbrochen, dass jemand die Tür öffnet und leicht dagegen klopft. Es ist ausgerechnet Yuna und sie sieht besorgt aus. „Alles gut?", fragt sie und ich nicke, auch wenn es nicht stimmt. Sie scheint zu sehen, wie sehr ich durch den Wind bin und kommt einen Schritt auf mich zu. „Sag es mir", meint sie und lächelt leicht, um mich aufzumuntern. Ich seufze und meine: „Ich habe eine Einladung zum Vorspielen und muss deswegen nach Hause." Yunas Augen weiten sich erstaunt, dann lächelt sie auf ihre unnachahmlich coole Weise und sagt: „Ist doch Hammer." Ich mustere sie, um irgendwo einen Funken Traurigkeit in ihren Augen zu erkenne, doch scheitere. Ist es ihr egal, wenn ich gehe? „Sie würden mich sofort mitnehmen", füge ich hinzu und Yuna nickt. „Dann solltest du packen, ich sage den anderen Bescheid." Mehr sagt sie nicht, lässt mich stehen und ich spüre deutlich, dass ich ein Idiot bin. Für sie war ich vermutlich wirklich nur ein weiteres Mädchen, das für den Moment ganz interessant war. Wie kann sie nicht mal eine Miene verziehen, während ich am liebsten heulen würde. Was bin ich nur für ein Idiot zu denken, sie könnte Gefühle für mich entwickeln, geschweigedenn für irgendwen. Yuna würde vermutlich immer als erstes und letztes nur an sich selbst denken. Vielleicht hat sie Recht und ich sollte packen und fahren. Es ist das einzig Rationale und zumindest kann ich dann nichts bereuen. Die Wut auf Yuna verdrängt das Gefühl, dass ich sie vermissen werde und ich schnappe mir schnell meine Klamotten. Was hält mich hier? Ich muss meinem Traum folgen...

.........

„Quinn hat auch schon nach dir gefragt", erzählt meine Mutter, doch ich höre ihr nicht richtig zu. Wir sind vor wenigen Minuten losgefahren und es geht mir nicht gut damit. Ich habe mich von allen verabschiedet und tatsächlich wirkten sie traurig, mich gehen zu lassen. Yuna war die Einzige, der es scheinbar gar nichts ausgemacht hat. Sie hat sich nicht mal die Mühe gemacht, aufzustehen und mich zu umarmen. Livs Stolz als sie mich verabschiedet hat, hat mich kurz aufgemuntert, doch es ging schnell vorbei. Etienne hat mir gesagt, dass er zu all meinen Konzerten kommen wird und mich später für die Hochzeit mit Mika buchen wird. In mir spüre ich deutlich, dass ich sie alle sehr vermissen werde. Ich war noch nie zuvor Teil einer Gruppe und hatte so gute Freunde. Yunas Verhalten macht mich so wütend, dass es meine guten Erinnerungen an sie fast zerstört. Ich will auch nicht an das Gute denken, weil ich sonst sofort anfangen würde zu weinen. Ich bin nicht so dämlich, nicht zu kapieren, dass ich eindeutig in Yuna verknallt bin und die nächsten Wochen vermutlich Liebeskummer haben werde. So gerne ich mir auch etwas anderes einreden würde, sie hat mich doch voll und ganz für sich eingenommen.

Als mein Vater ausnahmsweise was sagt, weil meine Mutter eine Pause machen muss, um etwas zu trinken, höre ich besser hin. „Deine Hände werden noch die ganze Welt verzaubern, Leni." Ich muss etwas schmunzeln und mein Blick fällt auf meine Finger. Einen Moment lang betrachte ich sie und muss dann daran denken, wie Yuna für mich in den Nagel gefasst hat. Sie hat keine Sekunde darüber nachgedacht, sondern einfach gehandelt. Ich kann ihr nicht egal sein. Ich bin ihr nicht egal. Mir wird mit einem Mal klar, dass ich falsch von ihr denke. Sie hat meinen Traum schon ein Mal gerettet, warum sollte sie es nicht wieder versuchen. Sie hat damals nicht an sich selbst gedacht und vielleicht hat sie es heute auch nicht. Ich schaue in den dunklen Nachthimmel und muss an meine Oma denken. Ihr größter Wunsch war es nicht, dass ich Erfolg habe, sondern dass ich glücklich bin. Ich greife nach meinem Notenbuch und drücke es an meine Brust, ich weiß, was ich tun muss.

My hardest riseحيث تعيش القصص. اكتشف الآن