Kapitel 37

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Die nächsten Tage vergehen wie im Flug, weil ich kaum Gedanken an zuhause oder meine Zukunft verschwende. Ich genieße die Zeit mit den anderen und habe sogar Spaß am Wandern und Kanu fahren. Wenn ich mich kurz nicht wohl fühle, reicht eins von Yunas Lächeln und bringt mich sofort wieder in gute Stimmung. Immer öfter gibt es Momente zwischen uns, in denen ich sie zu gerne küssen würde. Beim Wandern bleibt sie extra mit mir hinten wie bei unserer ersten Wanderung, doch diesmal quatscht sie mich den ganzen Weg über voll. Sie bringt mich ständig zum Lachen und ich traue mich mittlerweile unverblümt genau das zu sagen, was ich denke. Wir erklimmen einen höheren Gipfel als beim letzten Mal und ich schaffe es, Yuna mit mir zum Gipfelkreuz zu nehmen, obwohl sie eindeutig Angst hat. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie sie es in den letzten Jahren geschafft hat, ihre Angst zu verstecken. Sie ist wirklich gut darin, ihre Gefühle vor anderen Menschen zu verbergen. Beim Kanufahren teile ich mir ein Kanu mit Mika, weil Etienne die Aufgabe bekommt, mit Yuna im Kanu alleine paddeln zu müssen. In der Mitte des Sees gehen alle schwimmen, weil es ein richtig heißer Tag ist und die Abkühlung gut tut. Liv und ich versuchen uns gegenseitig unter Wasser zu drücken, bis sie mit einem Mal meine Hände festhält und mir zeigt, dass ich mich umdrehen soll. Ich folge ihrem Blick und muss lächeln, als ich sehe, wie Kyle Ashley küsst. Mein Bruder kann ein Idiot sein, doch tief innen drin ist er ein guter Mann, der nur jemanden braucht, der ihn etwas zügelt. Mittlerweile kenne ich Ashley besser und habe sie liebgewonnen. Sie passt sich unserer Gruppe besser an und ist sich nicht mehr zu fein, sich dreckig zu machen. Nachdem sie Kyle vor uns allen eine Ohrfeige gegeben hat, als er von einer Frau erzählt hat, die er in einem Hotelzimmer zurückgelassen hat nach einem One-Night-Stand, hat er mehr Respekt vor ihr und verhält sich anständiger.

„Endlich dann nervt er uns jetzt vielleicht weniger", kommentiert Yuna das Geschehen und ich spüre, dass sie unter dem Wasser über meinen Rücken streicht. Ihrer Hand geht es seit dem Arztbesuch jeden Tag besser und sie kann mit wasserfestem Pflaster schwimmen gehen. „Du bist ja nur froh, dass er dich jetzt in Ruhe lässt", scherzt Liv und schwimmt dann zurück zum Kanu, um sich von Alex hochhelfen zu lassen. Ich sehe Yuna an und sie grinst leicht, während ihre Hand von meinem Rücken zum Bauch wandert. Ich trage eine Rettungsweste, so wie wir alle, sodass man meine Narbe trotz des Bikinis nicht sehen kann. „Dabei stehe ich doch auf Familie Lewis", sagt sie und zwinkert mir zu. Ich schüttele schmunzelnd den Kopf und schaue kurz, ob die anderen uns ansehen. „Du bist unmöglich", sage ich und greife unter Wasser nach ihrer Hand, weil uns niemand beobachtet. Sie sieht mich wie so oft mit einem Blick an, der mich viel zu sehr anzieht und dem ich nicht entfliehen kann. Der See spiegelt sich in ihren dunklen Augen und ich muss an das Tattoo an ihrer Hüfte denken. Unterm Wasser fahre ich mit meinen Fingern über die Stelle, an der ich es vermute und sofort ändert sich Yunas Gesichtsausdruck. Etwas Dunkles tritt in ihren Blick und sie beißt sich auf ihre Unterlippe. Bevor ich mich zu sehr von ihren Lippen ablenken lasse, schaue ich in ihre Augen und frage: „Wofür steht es?" Sie grinst leicht und stellt mir eine Gegenfrage, statt zu antworten: „Hast du mich etwa abgecheckt, Red Russian?" Schmunzelnd spritze ich ihr etwas Wasser ins Gesicht, weil sie mich wie immer necken muss. „Idiot", murmele ich und lasse ihre Hüfte los, um wieder in Richtung Kanu zu schwimmen. Yuna begleitet mich grinsend und hält mich auf, als ich wieder auf das Kanu steigen will. Ich sehe sie an und sie seufzt: „Es steht für Leben. Meiner Mutter hat es immer von allen Schriftzeichen am liebsten gefallen." Ich lächele leicht und fühle mich geschmeichelt, weil Yuna sich mir öffnet. Es bedeutet mir viel, wenn sie von ihrer Mutter erzählt, weil es ihr sichtlich schwerfällt. Ich muss an ihre Kette denken, die sie schon mehrmals in der Hand gehalten hat. „Ist es das gleiche wie an deinem Anhänger?", frage ich interessiert und Yuna lächelt leicht, ausnahmsweise wirkt sie verlegen. Jedoch verschwindet die Unsicherheit schnell aus ihrem Gesicht und sie beugt sich dicht zu mir, um mir ins Ohr zu flüstern: „Lass mich heute Abend in dein Zimmer, dann erzähle ich es dir." Sofort bekomme ich Gänsehaut und ich weiß, dass Yuna genau das erreichen will. Sie schwimmt herüber zu Etienne und lässt mich mit schneller klopfendem Herzen zurück, ich kann nicht erwarten, dass der Tag endet.

Nach dem Abendessen sitze ich mit Alex auf der Wiese und schaue Liv und Kyle dabei zu, wie sie Tischtennis spielen. Kyle hat die Platte im letzten Jahr günstig bei einem seiner Aushilfsjobs auftreiben können. „Ich glaube, ich muss dir was sagen", meint Alex und ich sehe ihn überrascht an. Er wirkt leicht nervös, was er in meiner Nähe normalerweise nie ist. Er spielt an seiner Armbanduhr herum, dann lächelt er leicht und murmelt: „Gestern habe ich Liv geküsst." Sofort muss ich grinsen und greife nach der Hand meines Cousins. „Das freut mich", versichere ich ihm und es kommt für mich nicht unerwartet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich näherkommen, so wie sie umeinander rumspringen seit Anfang des Urlaubs. Er sieht mich an und kapiert dann wohl, dass ich es schon geahnt habe. Sofort wird er leicht rot, was mich zum Schmunzeln bringt. Ich freue mich wirklich für Alex, weil er nur das Beste verdient hat. Vor dem Urlaub hätte ich gesagt, dass Liv nicht in seiner Liga spielt, weil Kyle und seine Freunde schon immer die beliebtesten und hübschesten Jugendlichen in der Stadt gewesen sind. Jetzt weiß ich jedoch, dass die beiden perfekt zusammenpassen und Alex ruhige Art Liv ziemlich gut tut. Für einen Moment überlege ich, ob ich ihm von meinem Kuss mit Yuna erzählen soll, doch ich traue mich nicht. Es wäre ein ziemlich großer Schritt, vor jemand anderem zuzugeben, dass ich ein Mädchen gern habe. „Ich muss tatsächlich sagen, dass es hier gar nicht so übel ist", gebe ich zu und Alex lacht amüsiert. Er schaut zu Kyle und ruft: „Helly Belly hat zugegeben, dass sie gerne hier ist!" Ich verdrehe meine Augen, weil mein Bruder sofort den Ball auffängt und einen dämlichen Tanz aufführt. Liv steigt direkt mit ein und springt auf die Platte, um förmlich zu klatschen und Kyle zu beglückwünschen: „Sie haben Ihren Job hier vollbracht, junger Lewis." Ich verstecke mein Gesicht hinter meiner Hand, um mir die Deppen nicht ansehen zu müssen, als auch der Rest zu uns rauskommt. „Warum tanzen wir?", fragt Etienne mit leuchtenden Augen und läuft zu Liv, um zu ihr auf die Platte zu springen. „Helena findet es gar nicht so scheiße hier", ruft mein Bruder und sofort sieht Etienne mich an und bewegt sich in unnachahmlicher Weise. Etienne ist ein ziemlich guter Tänzer, doch selbst er sieht gerade bescheuert aus. Es ist aber auch eindeutig jedem egal, denn sogar Mika und Ashley fangen lachend an, mitzutanzen. Liv kommt zu uns gelaufen und hält Alex ihre Hand hin: „Komm, wir müssen die Neuigkeiten feiern." Lachend lässt er sich von ihr aufhelfen und tanzt mit ihr über den Rasen. Schmunzelnd schüttele ich den Kopf, als hinter mir Musik angeht und alle jubeln. Jetzt werden sie wohl nie wieder aufhören, diesen dämlichen Freudentanz aufzuführen. „Habe ich richtig gehört?", ertönt eine Stimme über mir und ich erkenne Yuna, die mich schief anlächelt. Ich ziehe nur unschuldig die Schultern hoch und sie reicht mir schmunzelnd ihre Hand.

„Schenkst du mir diesen Tanz, schöne Helena?", fragt sie und ich kann nicht verhindern, dass ich leicht rot werde. Sie hat einfach eine unfassbare Wirkung auf mich, die ich nicht abschalten kann. Ich greife nach ihrer Hand und schon finde ich mich zwischen den anderen wieder und mache genau die gleichen bescheuerten Bewegungen wie sie.

Ich kann nicht leugnen, dass es einer der schönsten Momente meines Lebens ist.

My hardest riseWhere stories live. Discover now