Kapitel 52

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POV Helena

Ich bin am nächsten Morgen die erste, die bei Liv am Frühstückstisch sitzt, weil alle anderen heute wohl ausschlafen. Gestern habe ich den ganzen Abend geübt und vermutlich werde ich mich nach dem Frühstück wieder ans Klavier setzen. Es ist der beste Weg mich vorzubereiten und gleichzeitig an etwas anderes als meine Gefühle zu denken. Wenn ich spiele, schalten sich meine Gedanken aus und meine Konzentration gilt nur den Tasten. Ich bin mir sicher, dass es das Einzige ist, das mir im Moment helfen kann.

Liv stellt mir eine heiße Schokolade hin und setzt sich dann zu mir. „Wie geht's dir, Kleine?", fragt sie, während sie sich ein Brötchen aufschneidet. Ich zucke mit den Achseln und brumme nur: „Ganz gut." Dann schnappe ich mir eine der Zeitschriften, die auf dem Tisch herumliegen und blättere darin herum. Als ich etwas über Justin Bieber lese, muss ich grinsen, weil ich an die junge Quinn denken muss. „Du weißt, dass du mit mir reden kannst, oder?", sagt Liv und lässt es beiläufig klingen, obwohl ich sofort weiß, dass sie etwas im Sinne hat. Ich schaue von der Zeitschrift auf und hebe eine Augenbraue. „Ja", sage ich zögerlich und frage mich, ob sie ahnt, dass zwischen mir und Yuna etwas passiert ist. Sie seufzt und überschlägt ihre Beine, um sich dann etwas in ihrem Stuhl zurück zu lehnen. Wie immer trägt sie weite, bunte Klamotten, die aussehen, als würde sie im falschen Jahrtausend geboren sein. „Es ist nicht immer leicht, jemanden an sich heranzulassen", sagt sie und klingt mal wieder wie meine Mutter, nur in weniger streng. Ich runzele fragend die Stirn und weiß nicht, worauf sie jetzt hinauswill. „Ich kenne Yuna jetzt schon ziemlich lange und ich weiß, dass sie kein einfacher Mensch ist. Sie kann kühl sein, aber sie meint es nicht so." Ich nicke langsam und frage mich, ob sie denkt, dass Yuna mich verletzt haben könnte. Wenn sie wüsste, wie falsch sie damit liegt und wie wenig kalt Yuna zu mir ist. „Du kannst es mir sagen, wenn sie Scheiße gebaut haben sollte", fügt Liv hinzu und meine Augen weiten sich. Sofort schüttele ich den Kopf und richte mich etwas auf. Ich will auf keinen Fall, dass Liv sauer auf Yuna ist, obwohl ich ganz klar die schlechte Person hier bin. „Sie hat nichts falsch gemacht", sage ich mit Nachdruck und schaue dann in meine Tasse. Ich bin die Einzige, die sich falsch verhalten hat. „Sicher?", fragt Liv nochmal nach und ich frage mich automatisch, was Yuna normalerweise mit Mädchen abgezogen haben muss, dass Liv ihr so wenig vertraut. Traurig streiche ich an meiner Tasse entlang und murmele: „Du musst mich nicht vor ihr beschützen, sie würde mir nie weh tun." Tief in mir weiß ich, dass das die Wahrheit ist und es schmerzt in meinem Herzen. Yuna hat mich zu jederzeit behandelt als wäre ich zerbrechlich und sie hat mir so oft meinen Rücken gestärkt. Vielleicht muss ich mich überwinden und versuchen, meine Vergangenheit zu vergessen. Ich weiß doch genau, dass meine Gefühle nicht einfach so verfliegen werden. Schon seit ich wach bin, denke ich nur an sie und frage mich, wann sie endlich aufsteht. Obwohl ich weiß, dass sie nicht mit mir reden wird, will ich gerne in ihrer Nähe sein. Selbst die Gedanken an damals ändern nichts daran, dass ich mich nach ihr sehne. Liv will noch etwas sagen, verstummt allerdings als Etienne und Kyle die Treppen herunterkommen. „Morgen Frühaufsteher", sagt mein Bruder gähnend und wuschelt mir durch meine Haare. Ich winde mich aus seiner Berührung und stehe auf, um mich an das Klavier zu setzen. „Jey, Frühstücksmusik", sagt Etienne gleich und klatscht freudig in seine Hände. Ich schmunzele und bin relativ froh, dass ich nicht mehr weiter mit Liv reden muss. Auch wenn sie es gut meint, belastet mich jedes Gespräch über Yuna und mich. Kaum sitze ich am Klavier bin ich in meiner eigenen Welt und nehme die anderen nicht mehr wahr. Es fällt mir mittlerweile wieder sehr leicht vor ihnen zu spielen, weil ich sie gut ausblenden kann. Mein Stück fürs Vorspielen klappt mittlerweile schon sehr gut und meiner Hand geht es auch schon besser. Kleine Grinde zieren meine Knöchel und es ist ein seltsamer Anblick für mich. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal überhaupt eine Schramme an meiner Hand hatte, es muss ewig her sein. Lange sitze ich da und lasse meine Finger über die Tasten gleiten, bis ich Durst bekomme.

 Als ich in die Küche gehe sind bereits alle wach und mein Bruder ist mit Ashley nach draußen gegangen. Liv, Alex und Mika sitzen noch am Tisch, Etienne scheint im Bad zu sein. In der Küche treffe ich ausgerechnet auf Yuna, die sich einen Saft aus dem Kühlschrank nimmt. Als sie mich sieht, wird ihre Miene direkt leicht genervt und sie will sich an mir vorbeischieben. Ich versperre ihr allerdings den Weg, weil ich das so nicht mehr kann. Es war falsch, sie so abzuservieren und ich will nicht, dass es den Rest des Urlaubs so zwischen uns ist. „Kann ich kurz mit dir reden?", frage ich und sie bleibt verdutzt stehen. Ihr Blick trifft meinen und ich spüre deutlich, dass ich sie vermisse. Wie gerne würde ich sie wieder lächeln sehen und mit ihr reden. Unsere Gespräche fehlen mir sehr, weil ich das Gefühl habe, ich kann mit keinem anderen so reden. Sie nickt langsam und mustert mich zurückhaltend. Ich atme kurz durch und spiele an meinen Händen herum: „Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich... es ist nur so, dass das alles sehr neu für mich ist." Ich stottere etwas und merke, dass ich unsicher werde. Yunas Blick ist relativ nichtssagend, doch sie macht auch keine Anstalten mich stehen zu lassen oder zu unterbrechen. „Es liegt nicht daran, dass du mir nicht wichtig bist", sage ich und kann nicht verhindern, dass ich mal wieder rot werde. Yunas Ausdruck wird sofort etwas weicher und ein winziges Lächeln umspielt ihre Lippen. Es gibt mir direkt etwas mehr Selbstbewusstsein und ich seufze: „Können wir cool miteinander sein, auch wenn ich noch nicht bereit bin?" Ich höre selbst, wie dämlich diese Frage ist, doch ich will einfach so gerne, dass sie mich weiterhin mag. Es ist vermutlich unfair, mir diese Tür offen zu halten, aber ich kann es nicht lassen. Der gestrige Tag war komplett scheiße und das lag nur daran, dass Yuna mich vollständig links liegen lassen hat. Ich will Teil ihres Lebens sein, auch wenn ich noch nicht weiß auf welche Weise. Zu meiner Erleichterung erscheint auf ihrem Gesicht das charmante Lächeln, das ich an ihr so liebe. „Wenn du möchtest", sagt sie und ihr Lächeln wird leicht schief. Ich spüre, dass sie nicht so cool damit ist wie sie vorgibt zu sein, doch ich nehme alles, was ich kriegen kann. „Danke", sage ich und sie nickt kurz. Dann verschwindet ihr Lächeln wieder und sie lässt mich stehen. Ich hole mir ebenfalls etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und lehne mich dann gegen die Küchenleiste.

Etwas Erleichterung macht sich in mir breit, doch ich weiß auch, dass es trotzdem nicht wie vorher wird.

My hardest riseDonde viven las historias. Descúbrelo ahora