Chapter 1

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C H A R L I E
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„Na los, Charlie. Raus aus dem Bett, ich fahre dich in fünfzehn Minuten. Beeil dich, wenn du nicht zu Fuß gehen willst", seufzt mein Vater und verlässt mein Zimmer.

Ich grummele vor mich hin, überlege ob ich mich vielleicht nicht doch unter der Decke verkriechen soll und setze mich letzendlich langsam auf. Müde reibe ich mir die Augen. Der Jetlag macht mir zu schaffen und es wird vermutlich lange dauern, bis ich mich an die kalifornische Zeitzone anpassen kann.

Gestern erst ging es los, mein Flug von London nach Monterey, dem jetzigen Wohnort meines Vaters. Man könnte es als eine Frechheit bezeichnen, dass ich bereits an meinem ersten, richtigen Tag hier in die Schule gezwungen werde.

Doch laut Aussage meines Vaters sollte es vermieden werden, dass ich noch mehr Schulstunden und somit wertvollen Stoff, wie er es nannte, verpasse.

Ich quäle mich aus dem warmen Bett und mein Blick fällt sofort auf den Spiegel, der neben meinem provisorischen Schrank aufgehangen worden war. Ich sehe grässlich aus, den Schlafmangel sieht man mir stark an und mit den fettigen Haaren und den extrem trockenen Lippen wirke ich wie eine Leiche.

Lustlos trete ich näher an den Spiegel heran und betrachte mich. Keine Frage, man könnte mich mit dem Aussehen ohne Vorwarnung in die Tonne kloppen. Vielleicht wäre es besser, wenn der Spiegel irgendwo anders aufgehängt wird, um mir diesen Anblick morgens zu ersparen.

Ich blicke auf mein Handy, welches auf meinem Nachttisch liegt und eine Nachricht meldet. Eine alte Klassenkameradin, die fragt, wie die Ankunft und das Land ist. Seufzend antworte ich ihr in Strichpunkten und werfe einen Blick auf die Uhr. Als ich bemerke, dass mir gerade noch zehn Minuten für meine morgendliche Routine bleiben, springe ich fluchend auf und sprinte ins Bad.

Um die Blässe loszuwerden, wasche ich mir das Gesicht hektisch mit kaltem Wasser. Die durch meine Dummheit entstandenen roten Flecken auf meinen Backen werde ich wohl oder übel ignorieren müssen. Verzweifelt krame ich in meiner Kosmetiktasche, die sehr spärlich gefüllt ist, nach irgendwelchen Hilfsmitteln und verfluche mich letztendlich dafür, dass ich zu geizig für anständige Schminkprodukte bin. Ich greife nach einer Wimperntusche, das einzige Produkt, das noch brauchbar ist, und tusche mir eilig die Wimpern.

Meine langen, dunkelblonden Haare binde ich zu einem Dutt. Ich gehe zu meinem noch nicht ausgepackten Koffer und ziehe meine schwarzen Chucks, eine graue Jogginghose und ein weites Shirt raus und ziehe es schnell an. Ich überlege, was mir noch fehlen könnte, als mein Vater schon nach mir ruft.

Fluchend schnappe ich mir meine Tasche und werfe Handy, Kopfhörer und Sportklamotten rein. Was anderes werde ich an meinem ersten Schultag hoffentlich nicht brauchen.

Ich renne die Treppe runter an meinem Vater vorbei, der schon ungeduldig an der Tür wartet und springe aus dem Haus, um in seinen Wagen einzusteigen. „Ich hoffe, das mit dem Verschlafen gewöhnst du dir nicht an, Charlett", sagt er, als er einsteigt und versucht, dabei möglichst streng zu klingen. „Nenn mich nicht Charlett", gebe ich zickig zurück und sehe aus dem Fenster.

Monterey ist eine schöne Stadt und ganz anders als England. Ich bin immer wieder erstaunt, wie verschieden manche Erdteile sein können.

„Ich hoffe, du benimmst dich. Ich hab ein gutes Wort für dich eingelegt."

„Dad, ich weiß", stöhne ich genervt auf.

„Ich meine ja nur. Du hast heute bis sechzehn Uhr Schule, ab dreizehn Uhr sind die ganzen Wahlfächer und sowas dran. Es ist Pflicht, eins auszusuchen an dieser Schule, aber ich bin mir sicher, dass sie noch einen Platz im Fußballteam für dich haben. Letzte Woche soll einer ausgetreten sein."

„Jaja Dad."

Glücklicherweise werden an meiner neuen Schule viele Sportkurse angeboten.

Nachdem wir unser Ziel erreicht haben, verabschiede ich mich von meinem Vater. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Backe und steige aus. „Viel Spaß an deinem ersten Tag!"

Vor mir liegt die riesige Monterey High School und viele Schüler strömen in das Gebäude. Hilflos sehe ich mich auf dem Gelände um, aber mir bleibt keine andere Wahl. Augen zu und durch.

Ich versuche, so lässig wie möglich loszulaufen und folge den anderen Schülern. Auf den ersten Blick scheinen die typisch, klischeehaften High School Geschichten wahr zu sein. Die Schule sieht modern aus, wie die aus den kitschigen Serien und überall stehen kleine Gruppen verteilt, die auf den Beginn der ersten Stunde zu warten scheinen.

Ein wenig erinnert es mich doch an meine Zeit in England, denn auch mein Freundeskreis stand bevorzugt in einem Kreis herum und hat gehofft, so etwas Respekt von den anderen Schülern zu kriegen. Vielleicht lag es auch daran, dass meine Clique aus pubertierenden Jungs mit einem leichten Aufmerksamkeitsproblem und mickrigem Ego bestand, da ich den Kontakt zu Mädchen hauptsächlich meide. Zu viele Zickereien, zu viel Geläster.

Ich betrete das Gebäude und sehe mich um. Einige Blicke treffen mich, was wohl daran liegt, dass ich ziemlich hilflos aussehen muss. Stumm dränge ich mich an den Personen vorbei und versuche mein Ziel zu finden.

Ich laufe den Gang entlang und halte Ausschau nach dem Sekretariat. Die Schulen hier sind ganz anders aufgebaut als die in Europa und ich muss mich erst mal zwischen all den Türen, Spinden und Gängen zurecht finden. Das ganze gleicht einem Labyrinth. Nach bereits zwei Schulklingeln und tausend leere Gänge finde ich endlich das Sekretariat, das unverschämt weit weg ist.

Ich klopfe an die Tür, setze mein freundlichstes Lächeln auf und trete ein. Eine blonde, ziemlich alt aussehende Sekretärin sieht mich an und rückt ihre Brille zurecht.

„Was kann ich für Sie tun?", fragt sie spitz. Stirnrunzelnd sehe ich die an und versuche mir einzureden, dass sie nur auf mich arrogant wirkt, aber es eigentlich nicht ist.

„Ich bin die neue Schülerin, Charl..-"

„Charlett West. Ja, ich habe schon von Ihnen gehört. Sie sind ziemlich spät", unterbricht sie mich und sieht mich von unten nach oben an.

Ich versuche mich nicht allzu stark von ihr provozieren zu lassen und atme tief durch.

„Tut mir leid. Ich habe das Sekretariat nicht gefunden", zische ich und setze ein falsches Lächeln auf.

"Ach so ist das", meint sie nur und kramt in ihrem Papierhaufen herum. „Ah, hier ist es ja. Charlett West, 17 Jahre alt, Klasse 11, Junior Year", sagt sie und reicht mir ein Blatt. Verschieden Kästchen gefüllt mit Nummern und Buchstaben lachen mir entgegen.

Trotz meinem perfekten Englisch habe ich dennoch Probleme damit, vom Britischen auf das Amerikanische umzusteigen und verstehe auch nichts von dem Schulsystems Kaliforniens.

Ich nehme wortlos das Blatt, verabschiede mich und mache mich auf die Suche nach meinem Klassenzimmer. Mittlerweile komme ich ungefähr fünfzehn Minuten zu spät und ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass das nicht gut ankommen wird.

Ich blicke auf mein Blatt, auf welchem alle meine Daten stehen. Raum 17C im Erdgeschoss ist das einzige, was ich halbwegs entziffern kann.

Meine Lehrerin heißt anscheinend Mrs. Montarino und ihrem Namen nach zu urteilen könnte sie auch aus dem Süden Europas stammen. Seufzend mache ich mich auf den Weg zur Stunde.

Zum Glück finde ich den Klassenraum schnell und betrachte die Tür. Nur ein paar Schritte trennen mich von den Menschen, die ich ab heute jeden Tag ertragen muss.

Ich atme tief durch und klopfe an die Tür. Ich reiße sie auf und betrete den riesigen Raum. Sofort liegen die Blicke meiner Mitschüler auf mir, die wohl nichts die willkommene Ablenkung von Unterricht meinerseits haben. Freundliche, aber auch arrogante und mitleidige Blicke treffen mich. Den Preis für den unauffälligsten Auftritt habe ich schon mal in der Tasche. Ein super Start in den ersten Schultag an meiner neuen Schule am anderen Ende der Welt.

Bester FeindWhere stories live. Discover now