Kapitel 46

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Lange dachte ich nach, doch mir kam kein Moment in den Sinn, in dem ich den Namen schon einmal gehört haben konnte.

„Ich... Ich verstehe nicht ganz", sagte ich kleinlaut.

Er war doch die ganze Zeit Finn gewesen. Er war an meiner Schule. Er hatte eine Beziehung mit Liv. Wie konnte er auf einmal jemand ganz anderes sein?

„Er hat dir ja auch deine Erinnerungen genommen", lachte er, wie auch immer ich ihn jetzt nennen sollte.

„Wer?"

„Mein Bruder."

„Vielleicht solltest du ihr auch erklären, wer dein Bruder ist", gähnte Katy, die wieder den Raum betrat und sich auf einen der Schreibtische setzte.

„Soll ich nicht lieber ganz von vorne anfangen? Sonst ergibt die Geschichte doch gar keinen Sinn", wollte Finn von ihr wissen, als wäre sie seine Managerin oder so etwas.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ist mir eigentlich ziemlich egal. Überleben wird sie es wohl eh nicht, bei deinen Aggressionen vorhin."

„Das kann gut sein", stimmte Finn ihr zu. Er drehte sich zu mir um und sah mich durch die Gitterstäbe belustigt an, wie ich immer noch dort in der Ecke saß. „Ich weiß gar nicht mehr, welches Jahr es genau war. Ist ja auch egal. Vor langer Zeit haben ich und mein Bruder Gott verärgert, weil wir uns immer gegenseitig übertrumpfen wollten und dies und das", fing er an zu erzählen.

Ungläubig sah ich ihn an. Kam er etwa aus einer sehr gläubigen Familie?

„Dann sind wir vom Himmel gefallen", fuhr er fort.

Katy verdrehte genervt die Augen. „Das ist doch alles total egal. Du willst doch eh nicht dorthin zurück."

„Was soll ich denn da auch? Hier unten ist es viel witziger." Er lachte wie ein Irrer, der gerade aus einer Anstalt geflohen war. Genau so kam mir diese Situation auch vor. Ich hatte keinen Plan, was er da für einen Schwachsinn redete, aber ich wollte ihn auch nicht verärgern.

„Jetzt mach", drängte Katy ihn, als wenn sie schon ganz mordlustig wäre und mir endlich den Kopf abreißen wollte.

„Als wir dann zusammen hier unten waren, bekamen wir einen Auftrag. Wir mussten Leute beschützen, um uns unseren Platz an der Seite Gottes zu verdienen. Was eine lästige Aufgabe. Auf jeden Fall habe ich diese Aufgabe eigentlich super gemeistert, bis ich 1970 in England landete, wo ich durch Zufall meinen Bruder traf. Ich hatte den Auftrag bekommen, ein Mädchen namens Ava zu schützen, was ich auch getan habe. Aber mein Arsch von Bruder hat sich in sie verknallt und war wie von ihr besessen."

Ich saß schweigend in meiner Ecke, während Finn total in Rage zu sein schien. Er schien diese Sache komplett ernst zu nehmen und Katy saß nur ungeduldig wartend auf dem Schreibtisch. Mein Puls wurde immer schneller. Ich wollte nicht, dass er aufhörte die Geschichte zu erzählen. Ich wollte nicht sterben.

Vermisste mich denn noch keiner? Ich meine, ich haue doch nicht einfach von meiner eigenen Hochzeit ab. Wo waren die Suchtrupps mit den Spürhunden?

„Dann ist sie gestorben. Und ich gebe ihm noch heute die Schuld", sagte Finn mit einem Blitzen in seinen Augen. Ich meine für einen Moment ein Mädchen erkannt zu haben, aber es war zu schnell wieder verschwunden.

„Ist ja auch richtig so. Wenn der Spast sie umbringt", sagte Katy und cremte sich ihre Hände ein. Sie schien ziemlich gelassen, wenn man ausließ, wie ungeduldig sie immer noch zu sein schien. Aber sonst machte ihr diese Situation überhaupt nichts aus.

„Dann, 1975, traf ich Katy und hatte eine Verbündete. Mein Bruder hatte sich in der Zeit verpisst und war untergetaucht. So ein Feigling. 1996 fand ich ihn, in Deutschland. Allerdings hatte er sich zu einem Baby geschrumpft und war von einer Familie namens Dubois adoptiert worden. Seine Mutter war eine hübsche Frau, muss ich sagen. Damals verstand ich noch gar nicht, was das sollte. Heute weiß ich jedoch, dass er den Auftrag bekommen hatte, dich zu beschützen", lachte er, als wenn das irgendwie spaßig wäre.

Ich hatte immer noch keine Idee, wer sein Bruder denn nun war.

„Seine Eltern habe ich auch umgebracht und genauso wollte ich es mit dir tun. Weißt du noch, der Autounfall? Ich wollte dich einfach überrollen, aber leider hatte dein Schutzengel andere Pläne."

Ich schluckte. Das alles schien schon Ewigkeiten geplant gewesen zu sein.

„Du darfst den Fakt nicht auslassen, dass er in die Hölle kommt", bemerkte Katy und ich verstand noch weniger.

„Na klar", sagte er, als wenn er es sonst wirklich vergessen hätte. „Wenn ein Engel, bei seiner Aufgabe, auf jemanden aufzupassen, versagt, kommt er der Hölle ein Stückchen näher, wie auch bei anderen Vergehen. Louis hat mich der Hölle ein Stück nähergebracht und mir meine Liebe genommen, also werde ich das jetzt auch bei ihm tun. Ich habe da mein Leben lang drauf gewartet."

Schockiert sah ich die Beiden an. Louis war sein Bruder. Ich konnte es nicht fassen, dass er mir so etwas verheimlicht hatte, aber irgendwie konnte ich es auch verstehen.

Louis Bruder war mein Stalker. Mein Schwager.

„Er hat dir ganz schön weh getan", stellte ich fest. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich war einfach nur geschockt.

„Das hat er wohl", sagte Finn, ziemlich leise. „Aber es ist schön, dass ich eine Möglichkeit gefunden habe, es ihm heimzuzahlen."

Ich wusste immer noch nicht, ob ich das alles wirklich glauben konnte. So wie ich das verstanden hatte, waren Louis und sein Bruder, der Finn ist, aber Elian heißt, beide gefallene Engel. Also im Prinzip so wie Luzifer, der jetzt über die Hölle herrschte. Allerdings hatten sie die Möglichkeit, ihre Taten wieder gut zu machen, indem sie auf Menschen aufpassten.

Es klang irgendwie plausibel und trotzdem komisch. Das alles war so surreal.

„Ich find das toll", sagte Katy überglücklich, als wenn ich das noch nicht gemerkt hatte.

„Und du bist seine Komplizin, weil?", erkundigte ich mich. Wenn ich schon starb, wollte ich wenigstens wissen wieso.

„Weil ich weiß, wie es ist, wenn einem jemand genommen wird, den man liebt", murmelte sie abwesend.

„Sie ist ein wahrer Engel", lachte Finn und ich wusste nicht so ganz, ob er das jetzt wortwörtlich meinte oder ob es ein Spaß war.

Katy ging zu Finn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Ein Paar waren sie also auch noch.

„Ihr habt kein Recht dazu, euch als Engel zu bezeichnen. Das seid ihr schon lange nicht mehr!", hörte ich eine sehr vertraute Stimme.

Nach langer Zeit traute ich mich endlich wieder, aus meiner kleinen Ecke zu kriechen und stand nun, wie ein kleines Kind, erwartungsvoll an den Gitterstäben der Zelle.

Der Himmel in seinen AugenWhere stories live. Discover now