„Was soll ich denn machen? Dich die ganze Fahrt lang hassen? Da habe ich keinen Nerv drauf. Außerdem bekomme ich ja gerade einen Teil von dem, was ich will. Du fährst mich nach Hause. Also ist doch alles einigermaßen okay", erklärte ich ihm.

„Du weißt, dass das nicht stimmt", wandte er ein. „Mein Bruder wird nicht aufhören, dir etwas tun zu wollen."

Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist mir egal. Das wird er immerhin auch nicht, wenn ich weiter vor ihm weglaufe."

„Das stimmt wohl. Ist nur die Frage, wobei du mehr zu Schaden kommst. Aber das kann mir egal sein", zischte Louis. „Es ist dein Leben."

„Richtig", stimmte ich ihm zu, auch wenn er das nicht wirklich ernst gemeint zu haben schien.

„Soll ich dich dann in Ruhe lassen, wenn du wieder Zuhause bist, oder wie läuft das dann ab?"

Ich überlegte, doch musste feststellen, dass ich das selbst nicht wusste. Louis war mir wichtig und ich wollte nicht, dass er geht, aber irgendwie war es doch nötig. Ich könnte mit ihm an meiner Seite kein normales Leben führen.

„Ich weiß es nicht", sagte ich ehrlich. „Aber ich habe ja noch drei Stunden, um mir zu überlegen, was ich möchte."

„Die Frage ist nur, ob ich es akzeptiere", schmunzelte er.

Nun wurde mir klar, dass Louis mich auf keinen Fall alleine lassen würde. Desto länger ich darüber nachdachte, desto mehr fiel mir wieder ein, wie wichtig ich für ihn war, in der Hinsicht, dass er seine Art Prüfung bestehen musste.

Ich hörte auf, Louis auf seine Fragen zu antworten, denn er beantwortete meine ja erst recht nicht. Ich saß einfach wieder stumm da und starrte aus dem Fenster. Es war lustig, die anderen Autofahrer zu beobachten. Manche sahen ziemlich komisch aus und andere fuhren absolut angespannt Auto, als wenn sie Panik hätten, dass sie sonst einen Unfall bauen würden. Eine Frau hatte weiße Haare, die zu Berge standen und sie aussehen ließen, wie ein Kakadu. Ich musste schmunzeln, was Louis zu bemerken schien.

„Was ist so lustig?"

„Ach, nichts."

„Ich habe dich aber doch gerade lachen gesehen", meckerte er.

„Ich beantworte nur noch Fragen, wenn du meine beantwortest", sagte ich in einem fiesen Ton.

Louis schmunzelte nun auch. „Werde mal nicht so frech, Annabell."

„Was sonst?", erkundigte ich mich jetzt voller Ernst. „Sonst magst du mich nicht mehr? Ich weiß ja nicht einmal, ob du mich überhaupt magst."

„Das weißt du nicht?", wollte Louis wissen.

„Nein. Wie soll man das bei dir auch deuten? Das habe ich dir schon mal gesagt."

„Und ich dachte, dass sich das bereits mal geklärt hätte", sagte er schnippisch.

„Guck, genau deswegen kann ich das nicht deuten. Mal bist du richtig süß und dann auf einmal richtig unfreundlich."

„Tut doch nichts zur Sache, was ich bin. Du willst mich ja eh loswerden." Louis war total eingeschnappt und ich von ihm genervt.

„Weil du keine meiner beschissenen Fragen beantwortest, obwohl du mich entführt hast!", erklärte ich wütend.

Er verstand nicht, was mein Problem war und das ging mir mächtig auf die Nerven.

Louis hielt bei der nächsten Gelegenheit am Straßenrand an und schaute zu mir herüber.

„Was willst du genau wissen? Ich sage dir alles, aber du darfst mich danach nicht verlassen", sagte auch er ein wenig wütend.

„Okay", willigte ich ein und strukturierte und formulierte im Kopf meine ganzen Fragen. „Wen hast du umgebracht", fragte ich und bekam dabei ein wenig Herzklopfen. Ich hatte schon Angst vor seiner Antwort, aber ich musste es wissen. Ich konnte nicht länger warten und ich wollte wissen, wer diese Person wirklich ist, mit der ich nachts zusammen in einem Bett schlafe. Wer diese Person ist, die mich ab und zu mal küsst und danach so tut, als wenn nichts gewesen wäre. Ich wollte alles wissen, egal wie sehr es mich schockieren würde und egal wie schlimm es wurde. Und wahrscheinlich würde es mir dann auch egal sein. Das war der Moment indem mir klar wurde, dass ich mich wirklich verliebt hatte. Das war wahrscheinlich so das Ding mit Liebe. Einem war egal, was der andere schon für Fehler gemacht hatte und machen würde. Man würde der Person überall hin folgen, so wie ich mit ihm weggefahren war. Und er war mir gefolgt. Auf Schritt und Tritt, überall hin, um mein Leben zu schützen.

„Ich habe niemanden wirklich umgebracht", wandte Louis ein und holte mich damit in die Gegenwart zurückgeholt.

Okay, dann musste ich meine Frage wohl anders formulieren. „Was meint Elian denn damit, dass du ein Mörder bist?"

Louis dachte kurz nach und antwortete mir aber verhältnismäßig schnell. „Ich war damals in seinen Schützling verliebt. Ihr Name war Ava. Das war in England, 1970."

„Und deine Liebe hat sie umgebracht?", befragte ich ihn weiter, weil seine Geschichte sich für mich noch nicht wirklich schlüssig anhörte.

Das es eine vor mir gab, schockierte mich eher wenig. Wenn man so lange auf der Erde war, wie ich glaubte, dass er es war, hatte man wahrscheinlich schon so einige Frauen gehabt. Vor allem bei so einem Körper.

„Nicht direkt", fuhr Louis fort. „Elian und ich waren beide ins sie verliebt, das war das Hauptproblem. Eines Tages hatten sie und ich uns gestritten, und sie war vor ein Auto gelaufen. Ich wollte ihr helfen, doch es war einfach zu spät."

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen wollte. Mein Puls war bei dieser Geschichte in die Höhe geschnellt und ich bekam Mitgefühl. Jedoch nicht nur Mitgefühl mit Louis, sondern auch mit Elian. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es war, jemanden zu verlieren, den man liebt.

„Deswegen will er mir jetzt dich wegnehmen. Nicht nur, weil ich ihn damals einen Schritt näher an die Hölle gebracht habe, sondern auch, weil ich ihm etwas genommen habe, was er liebt."

„Wieso ist Elian denn nicht in die Hölle gekommen?", fragte ich verdattert. Ich hatte immer geglaubt, dass sobald ein Engel die Person verliert, die er beschützen sollte, er in die Hölle kommt.

„Man hat ein gewisses Maß an Chancen. Aber desto mehr Schützlinge sterben, desto näher kommt man der Hölle. Und ich sag dir, das ist nicht schön. Das Böse breitet sich dann schon immer mehr in einem aus und man kann eigentlich auch nicht mehr wirklich dagegen ankämpfen", sagte Louis und ich bekam eine Gänsehaut.


Der Himmel in seinen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt