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„Nun?"Meine Mutter sieht mich argwöhnisch an

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„Nun?"
Meine Mutter sieht mich argwöhnisch an. In ihrer Mimik und Gestik sehe ich diese Taktik von ihr, die ich schon vor langer Zeit aufgedeckt habe und immer noch erkenne. Sie versucht, so auszusehen, als würde sie alles wissen, damit ich denke, dass es sinnlos ist, ihr etwas zu verheimlichen, und mit der Sprache herausrücke.
Das ist nur ihre Strategie, sage ich mir und bleibe so ruhig wie möglich. Sie weiß nicht, was passiert ist, und deswegen kann ich sie nach Strich und Faden belügen. Ich atme aus. Es fühlt sich gut an, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben.

„Oh, stimmt." Ich tue so, als würde mir plötzlich etwas einfallen, und lasse meine Augen aufleuchten. „Das habe ich ja ganz vergessen, euch zu erzählen! Der Test hat eine Stunde früher angefangen." Betont entschuldigend sehe ich sie an und reibe meine Schläfen, als wäre ich erschöpft. „Tut mir wirklich leid", entschuldige ich mich, „ich muss das in der ganzen Aufregung vergessen haben."

Meine Mutter seufzt leise. „Schon okay, Avelaine. Aber ich hatte wirklich das Gefühl, ich müsse mir Sorgen machen."

In ihrer Stimme und ihren Worten klingt etwas mit, das mich alarmiert. Ebenso wie die Tatsache, dass sie mich schon wieder „Avelaine" genannt hat - und das in einer so kurzen Zeitspanne. Trotzdem beschließe ich, die Analyse ihrer Reaktion auf später zu verschieben. Ich schütte das Wasser aus der Flasche und stelle sie falsch herum neben die Spüle, ehe ich meiner Mutter kurz zulächle und in meinem Zimmer verschwinde, nachdem ich auf der Treppe ihre Blicke auf meinem Rücken gespürt habe.
Als ich die Zimmertüre hinter mir schließe, atme ich auf, auch wenn in meinem Inneren sofort ein Gedankenchaos ausbricht. Hat sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt? Hat sie mir geglaubt, dass ich die Flasche nur ausgespült habe, die ich heute benutzt habe? Oder hat es sie misstrauisch gemacht? Hat sie meine Anspannung gespürt, auch wenn sie nicht gerade zu den einfühlsamsten Menschen gehört?
Und wieso zum Teufel war sie überhaupt so früh da? Ich laufe im Zimmer herum, bis ich feststelle, dass ich ganz schön trampele und man das ein Stockwerk tiefer hören könnte. Sofort unterlasse ich das und setze mich stattdessen aufs Bett. Ich starre den Rucksack neben mir an, versuche, das Gefühl zu beschreiben, dass mich bei dessen Anblick erfüllt.
Es ist Trauer - auf jeden Fall -, denn in meinen Augen sammeln sich Tränen.
Außerdem ist es Angst vor dem, was kommt. Vor dem Ungewissen. Zweifel an mir selbst - ob ich bereit bin, in das Camp der dritten Phase zu fahren, in dem Wissen, die Regierung, die man als Soldat beschützen sollte, abgrundtief zu hassen.
Aber trotzdem ist dieses Gefühl in meiner Magengegend das aufregendste, das ich jemals verspürt habe. Es ist Adrenalin, es ist Vorfreude, es ist Freiheit.

Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich mir schon seit längerer Zeit gewünscht, unabhängig von meiner Familie zu sein. Auch wenn ich dadurch hoffte, wieder richtig in die Familie aufgenommen zu werden, indem ich ihr gerecht würde, wollte ich auch immer Wissenschaftlerin werden, um mein eigenes Geld zu verdienen. Um den Bund zu meiner Familie zwar zu stärken, aber irgendwie auch zu lösen. In meiner Traumvorstellung haben meine Eltern mich umarmt und endlich mal wieder den Rest der Familie eingeladen - wie vor Elias' Tod -, bevor ich nach Polis umzog und dort ein erfolgreiches Leben führte.
Aber irgendwie muss ich zugeben, dass mich diese geplante Zukunft nicht mehr so stark reizt. Als ich den Rebellenslogan auf die Leinwand schrieb, hat sich etwas verändert. Zwar nur tief in meinem Inneren, aber doch so grundlegend. Ich kann es kaum beschreiben. Es ist wie ein verborgenes Bedürfnis, wie eine giftige Pflanze, dessen Spross in mir wächst und vor anderen unsichtbar ist, bevor sie sich einen Weg durch die Oberfläche bahnt und ausbricht. Mit all ihrer Kraft, mit all ihrer Schönheit, aber auch mit all ihrem Gift.
Wird sich dieses Bedürfnis auch irgendwann ihren Weg durch meine Oberfläche bahnen? Werde ich irgendwann vor Rachsucht und der Suche nach Freiheit so blind und egoistisch sein, dass ich riskiere, andere in meinem Umfeld zu zerstören?

Und mache ich das nicht bereits, weil ich meine Eltern durch mein Scheitern nur noch tiefer in die Schlucht gestoßen habe, in der sie sich durch Elias' Tod befanden und erwarteten, dass ich sie wieder ins Leben befördere?

Ich schüttele den Kopf, springe wieder auf, um mich zu bewegen - ich kann nicht länger nichts tun. Auch wenn ich nie gut genug war und es das vermutlich noch viel schlimmer macht, werde ich meine Eltern wieder enttäuschen. Wieder und immer wieder, bis sie endlich verstehen, dass ich nicht so bin wie sie.

Plötzlich bin ich ganz ruhig. Weil ich es mir eingestanden habe. Ich habe mir eingestanden, dass ich nicht so bin wie meine Eltern. Ich habe das, was mir schon mein Leben lang klar war, endlich vor mir selbst zugegeben.
Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, bestätigt meine Stimmungsschwankungen und das Chaos in meinem Kopf. Trotzdem lächele ich weiter, drehe mich im Kreis, während ich Dinge in den Rucksack werfe.

Ich bin nicht wie sie und das fühlt sich unglaublich gut an.

Intelligent - Phase 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt