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Die nächsten zwei Tage sind bedrückend

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Die nächsten zwei Tage sind bedrückend. Und wenn ich bedrückend sage, dann meine ich auch anstrengend und angespannt - wir versuchen krampfhaft, so weiterzuleben, als wäre nichts passiert, und das ist beinahe schlimmer, als wenn meine Eltern ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung Luft machen würden.
Trotzdem spüre ich ihre Blicke auf meinem Rücken, wenn ich mich mal aus meinem Zimmer traue - die sie schnell abwenden, weil ich sie bemerke. Es ist zum Verrücktwerden.

Aber auch ich traue mich nicht, über den Test zu reden. Generell bin ich nicht gerade gesprächig und lasse meine Eltern beim Essen über komplizierte wissenschaftliche Neuigkeiten reden, von denen ich keine Ahnung habe.
Und auch nie haben werde.
Ich spüre, wie sich ein Dolch in meine Brust bohrt, und kann nicht anders, als den Schmerz zuzulassen.
Es ist so viel einfacher, in Selbstmitleid zu schwelgen, als den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und weiterzukämpfen.

Es ist der zweite lange Nachmittag, den ich bisher eigentlich nur damit verbracht habe, die unzähligen Sachbücher auf dem Regal neben meinem Bett anzustarren, als ein Geräusch mich aus den Gedanken reißt. Ein dumpfes „Hier random facts, Klingelton 250. Wusstest du, dass die Erde einen Radius von etwa 6000 Kilometern hat?" durchbricht die Stille und lässt mich leise aufseufzen. Als ob ich diesen Klingelton noch bräuchte, denke ich. Außerdem beträgt der Erdradius 6378 Kilometer. Der Fakt ist viel zu ungenau - um 378 Kilometer. Das ist eine Menge. Ich bin nie so ungenau.
Ich habe echt kein Leben.
Ich krame den handflächengroßen Bildschirm aus der Schublade meines Nachttischschränkchens und starre ihn an. Es ist Jonah. Zum dreihundertfünfundvierzigsten Mal heute.
Vielleicht sollte ich mal drangehen.
Ich wäge die Situation ab, versuche, mich davon zu überzeugen, dass das Bücherregal viel interessanter ist. Schluss jetzt, unterbreche ich mich selbst energisch. Ich muss mein Leben wieder in den Griff kriegen und Jonah wird mir dabei helfen.

Ich atme kurz durch, puste eine ekelhaft fettige Strähne aus meinem Gesicht und klicke auf „Anruf annehmen".
„Ava?", ertönt seine Stimme im ganzen Raum. Ich springe auf und schalte die Bluetooth-Box aus, die ich ganz vergessen habe, ehe ich mich wieder auf Bett setze. „Hi."

Stille, dann ein leises Räuspern. „Deine Eltern haben mir von deinen Testergebnissen erzählt."

Ich schnappe nach Luft. Ernsthaft?, schießt mir durch den Kopf und ich runzele empört die Stirn. Nach ein paar Sekunden jedoch zucke ich mit den Schultern. Vielleicht ist es so einfacher, als wenn ich ihm erst davon erzählen müsste.
„Schön", bringe ich mit belegter Stimme hervor. Ich weiß selbst nicht, ob das mein Sarkasmus ist, der immer noch in irgendeiner Ecke meines Gehirns zu funktionieren scheint, oder ob ich einfach keine vernünftigere Antwort parat habe.

Wieder ein leises Räuspern. „Es tut mir wirklich leid für dich, Ave. Du hast das alles nicht verdient."

Ich blinzele gegen den Anflug von Tränen an und schlucke. Weil ich befürchte, dass Jonah an meiner Stimme sofort all meine Gefühle, die mich im Moment fast erdrücken, erkennen könnte, sage ich nichts.
Stattdessen entweicht mir ein leiser Schluchzer. Ich schlage die Hand vor den Mund, doch Jonah hat ihn bereits gehört. „Ave? Weinst du?"

„Ich schneide gerade Zwiebeln." Keine Ahnung, was mich geritten hat, dass ich so etwas von mir gebe. Ich verziehe das Gesicht. Ist doch eh alles egal.

Er lacht leise, doch es hört sich nicht so unbeschwert an wie sonst.

Ich räuspere mich und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Wie geht es dir?", lenke ich von mir ab. „Hast du bestanden?"

Jonah überlegt, was er antworten soll, und daran bemerke ich, was er sagen möchte.

„Glückwunsch." Mein Mund ist trocken, aber ich habe nicht gelogen oder meine Freundlichkeit geheuchelt. Ich meine es ernst, er hat es verdient, zu bestehen.
Wenigstens wird einer von uns ein glückliches Leben führen.

„Willst du darüber reden?"

Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlimm, die Dinge beim Namen zu nennen, als ständig um den heißen Brei drumrum zu reden, wie meine Eltern es tun.
„Ich fühle mich absolut beschissen", flüstere ich also. Es tut gut, die Wahrheit auszusprechen.

„Ich auch, wenn ich das von dir höre", antwortet Jonah bloß und bewirkt mit seinen Worten, dass sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen schleicht.

„Danke, Jo."

„Ich bin in zehn Minuten bei dir, beweg dich nicht von der Stelle!" Mit diesen Worten legt er auf. Überrascht schaue ich von meinem Bildschirm auf das Bett, auf dem ich gerade sitze. Nein, von der Stelle bewegen werde ich mich wohl nicht.

Nach sieben Minuten geht meine Zimmertür auf und Jonah kommt rein. Er verzieht nicht das Gesicht oder zieht eine Augenbraue hoch, als er mich ansieht - wie ich es eigentlich erwartet habe -, sondern grinst und sagt: „Hmm, wenn wir uns in einem Liebesfilm befinden würden, würde ich auf Liebeskummer schließen."

Er entlockt mir tatsächlich ein leises Lachen. Auch wenn es nur ein paar Sekunden andauert, weil mir danach klarwird, dass das hier viel schlimmer als Liebeskummer ist. Mein eigenes Leben steht auf dem Spiel.

Jo bemerkt meinen Gesichtsausdruck und macht eine entschuldigende Miene. „Tut mir leid, ich sollte keine Witze darüber machen, wenn deine Zukunft davon abhängt." Er geht auf mich zu und setzt sich zu mir aufs Bett. „Nun... wie sieht dein Schlachtplan für übermorgen aus?"

Ich runzele die Stirn und zucke mit den Achseln. „Keine Ahnung? Ich habe eine Fahrkarte nach Polis", erwidere ich. Tatsächlich habe ich mich bisher eher weniger mit dem Gedanken befasst, wie es weitergeht. Bereits übermorgen findet aber die zweite Phase statt - es ist komisch, auch nur darüber nachzudenken, weil ich es zuvor als so selbstverständlich angenommen habe, dass ich schon in der ersten Phase bestehe.

Jonah schnaubt leise. „Das meine ich nicht, das weißt du genau. Die zweite Phase testet deine Nützlichkeit im Beruf. In welchem Beruf willst du dich also beweisen?"

Ich stöhne frustriert auf und lasse mich mit dem Rücken aufs Bett fallen. „Woher soll ich das denn wissen?", maule ich. „Das ist doch eh alles egal." Selbst ich bin überrascht darüber, wie gleichgültig ich mich tatsächlich anhöre, doch ich ziehe meine Worte nicht zurück. Vielleicht wäre es einfach besser, wenn ich sterben würde, denke ich. Mein Eltern hassen mich und mein Traum von der Wissenschaft ist so schnell zerplatzt wie eine Seifenblase in der Luft.

Jonah sieht mich fassungslos an. „Ist das dein Ernst?"

Ich nicke und starre an die Zimmerdecke. „An dem Tag werde ich sowieso zu nichts zu gebrauchen sein."

Stille.
Ich bin mir sicher, dass Jonah das nicht abstreiten kann. Er ist der einzige, dem ich meine Vergangenheit anvertraut habe. Er weiß, dass übermorgen vor zwölf Jahren mein Bruder Elias ums Leben gekommen ist, und dass ich mich nach all den Jahren immer noch schuldig fühle, weil es meinetwegen war.
Er weiß, dass ich eine Mörderin bin.

Intelligent - Phase 3Où les histoires vivent. Découvrez maintenant