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Die Zugfahrt ist viel zu schnell vorbei

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Die Zugfahrt ist viel zu schnell vorbei. Als ich wieder auf dem Gleis in meiner Heimatstadt stehe, habe ich das Gefühl, es sind gerade einmal ein paar Minuten vergangen, auch wenn es in Wirklichkeit Stunden waren.
Ich fühle mich merkwürdig leer, und dass ich wirklich keinen blassen Schimmer davon habe, was ich jetzt tun werde, macht es auch nicht unbedingt besser.
Ich fühle mich alleine, und damit meine ich nicht, dass ich auf mich gestellt bin. Das war ich schließlich schon fast mein ganzes Leben lang.
Nein, es ist anders. Weil ich gerade das schwerste Verbrechen begangen habe, das man momentan begehen kann. Rebellion ist für die Gesellschaft von Aliénon schlimmer als Mord. Rebellion ist Aufstand, Aufmüpfigkeit und vor allem eines: etwas, das die Kontrolle über die Bevölkerung und die sorgfältige Ordnung des Staates stört.
Rebellion bedeutet Zerbrechen, Unheil, Revolution.
Rebellion bedeutet Leid.

Aber andererseits schenkt es mir in diesem Moment ein Gefühl von Freiheit, das ich noch nie gespürt habe. Ich verstehe unwillkürlich, was Sam antreibt. Wieso sie so handelt, wie sie handelt.
Wieso sie Freiheit über das Risiko, zu sterben, stellt.
Weil Freiheit süchtig macht.

Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich schon auf der Rolltreppe stehe, so sehr war ich in Gedanken versunken. Erst als ich über das Ende der Rolltreppe stolpere, fange ich mich gerade noch ab, schaue verwirrt umher und bemühe mich dann, die fragenden Blicke der Menschen um mich herum auszublenden. Das mit dem „keine Aufmerksamkeit Erregen" hat wirklich unfassbar gut funktioniert, denke ich trocken.
Damit zumindest die Polizisten, die vor einem der Läden stehen, nicht auf mich aufmerksam werden, halte ich mein Gesicht gesenkt und schaue erst auf, als ich außerhalb des großen Gebäudes schon ein paar Meter zurückgelegt habe. Erst dann erlaube ich mir selbst, kurz durchzuatmen, und merke, wie angespannt ich zuvor war.
Wenn dich jemand erkannt hätte, wärst du schon längst abgeführt worden, rede ich mir ein und nicke, damit es mir leichter fällt, das zu glauben.
Du hast es durch den Bahnhof geschafft. Jetzt bist du sicher.

Einen Moment lang überlege ich, dann entscheide ich mich, nachhause zu gehen. Soweit ich weiß, sind meine Eltern bei der Arbeit, und wenn sie nicht zuhause sind, kann ich meinen Plan durchführen.
Ich kann nicht mehr lange zuhause bleiben. Nicht, wenn alle Welt bald wissen wird, dass ich an Phase 2 teilgenommen und statt einem überzeugenden Kunstwerk einen berühmten Rebellenslogan auf die Leinwand gemalt habe.
Oder werden sie mich still und heimlich umbringen? Ich schüttele den Kopf über diesen gedanklichen Ausbruch meiner Nervosität und atme noch einmal tief durch, ehe ich weitergehe. Die Straße, die ich schon so oft langgegangen bin, fühlt sich fremd unter meinen Füßen an. Mit wachsender Nervosität blicke ich um mich, meine, in den Augen der Menschen, die an mir vorbeigehen, Misstrauen aufblitzen zu sehen.
Das bildest du dir nur ein, sage ich mir selbst, doch tief in meinem Inneren keimt Zweifel hoch. Woher weiß ich, dass diese Menschen nicht Bescheid wissen? Wie kann ich mir sicher sein, dass ich nicht bereits unter Beobachtung stehe, bis die Polizei einen günstigen Moment erkennt und mich festnimmt?
Ist überhaupt die Polizei für Fälle wie mich zuständig oder gibt es für sie Menschen, die vor der Bevölkerung geheimgehalten werden?
Ich fühle mich so nervös und beobachtet wie noch nie. Selbst vor der ersten Phase umfing mich nicht solche Ungewissheit und Schutzlosigkeit, weil ich damals noch dachte, ich hätte die Hochbegabung meiner Familie geerbt und nichts zu befürchten. Unwillkürlich denke ich an den Tag zurück. Den Tag, als alles angefangen hat, als mein Leben sich veränderte.
Als ich noch nicht wusste, dass ich nur wenige Wochen später als Schwerverbrecherin eingestuft werden würde. Als gefährlich.
Als Rebellin.

Zuhause ankommen fühle ich mich beinahe ein wenig sicherer. Auch wenn die Wände des Wohnzimmers in einem sterilen Weiß gehalten sind, bemerke ich auf einmal, wie sehr ich ihre Geborgenheit trotzdem zu schätzen weiß. Das Haus meiner Eltern ist nicht gerade das gemütlichste, aber es ist das Haus meiner Eltern. Wo ich geboren bin.
Umso mehr schmerzt es mich, dass ich es nie wiedersehen werde. Ich werde meine Sachen packen und verschwinden. Wohin genau weiß ich noch nicht, aber mir ist klar, dass Phase 3 meine letzte Chance aufs Überleben ist. Wenn ich unbemerkt bleiben kann und ich die Prüfung als Soldatin bestehe, werde ich vielleicht die Möglichkeit besitzen, ein neues Leben anzufangen.
Oder ich werde sterben.
Egal, welcher Weg zutrifft - dieses Haus werde ich für immer zurücklassen müssen. Und zwar bald, denn wenn die Testaufseher meine Leinwand ansehen, habe ich fast keine Chance mehr, ihnen zu entkommen. Meine unfreiwillige Flucht muss bald passieren.

Ich renne die Treppe hoch, ohne Rücksicht auf meinen Lärm. Meine Eltern sind nicht zuhause. In meinem Zimmer angekommen reiße ich den Kleiderschrank auf, hole den großen Rucksack hervor, den ich im untersten Fach verstaut habe. Ich werfe ihn auf mein Bett, ehe mein Blick ziellos im Zimmer umherschweift.
Was zur Hölle nehme ich überhaupt mit?

Ich entscheide mich zunächst dazu, Geld einzupacken, denn es ist in unserem Land Zugang zu allem. Die Scheine, die ich gespart habe, verschwinden in der vordersten Tasche des Rucksackes, nachdem ich sie einige Sekunden lang angestarrt habe. Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich auf digitales Geld umsteigen sollte, aber ich war in dieser Hinsicht stur. Jetzt bin ich umso froher über meine Entscheidung, denn mit lediglich einer Kreditkarte oder einem Gesichtserkennungs-Konto mit persönlichen Daten ausgerüstet zu sein, würde mir in meinem Versuch, unerkannt zu bleiben, zum Verhängnis werden.
Ich stopfe ein paar sorgfältig zusammengelegte Klamotten auf den Boden des Rucksacks, dann mache ich die Tür auf und laufe die Treppe hinunter. In einer Hand halte ich eine große leere Wasserflasche, die ich vollfüllen will.
Ich trete in die Küche, mache den Wasserhahn an und halte die Flasche darunter.

„Ava? Was machst du denn hier?"

Mein Herz macht einen Satz und ich schnell herum. Meine Augen sind vor Schreck geweitet.

In der Tür zur Küche steht meine Mutter und schaut mich aus argwöhnischen Augen an, ihre linke Augenbraue ist nach oben gezogen. Abwartend sieht sie mich an.

Eine Antwort, schießt mir durch den Kopf, ich brauche eine verdammte Antwort! Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange - wie immer, wenn ich nervös bin - und schaue meine Mutter hilflos an.
Ich habe keine.

Intelligent - Phase 3Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora