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21:47 Uhr

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21:47 Uhr.
Ich löse meinen Blick von der Anzeigetafel und beschließe, vor der Ankunft in meiner Heimat noch einmal aufs Klo zu gehen. Meine Augen brennen und ich bin erschöpft, doch ich hieve mich hoch und reibe meine Schläfen, ehe ich auf den Gang zwischen den Sitzen trete. Durch die Bewegung des Zugs schwanke ich etwas - eine Erinnerung an die Kellnerin heute Morgen blitzt vor meinem inneren Auge auf - doch ich halte mich an den Griffen der Kopfpolster fest.
Ein Kellner befindet sich zwischen mir und dem Ende des Abteils, wo sich hoffentlich eine Toilette befindet. Ich mustere ihn, denn irgendetwas an ihm erregt meine Aufmerksamkeit.
Ein Anflug von Schwindel überkommt mich und ich runzele die Stirn, doch ich fange mich wieder. So anstrengend war dieser Tag jetzt auch wieder nicht, denke ich und verziehe missbilligend das Gesicht. Was ist nur los mit mir?

Das Brennen in meinen Augen wird stärker, je näher ich dem Kellner komme. Er hat helles, blondes Haar, das an seinem Hinterkopf zusammengebunden ist, und am Rande nehme ich wahr, dass er ziemlich dürr ist. Seine Wangenknochen stehen deutlich hervor, er wirkt angestrengt.
Ich beobachte, wie er hektisch einen Kaffee vorbereitet, bemerke, wie seine Hand zittert, als er ihn einer jungen Frau reicht. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit auf ebendiese zu lenken, will ausmachen, wie sie aussieht, doch ich nehme sie gar nicht richtig wahr. Ich bin fixiert auf den jungen Mann, sein Umfeld verschwimmt vor meinen Augen.
Ich runzele die Stirn, laufe weiter. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen, wenn ich zuhause bin, überlege ich, doch der Gedanke schwebt in meinem Kopf weg wie eine leichte Feder, die ich nicht zu fassen bekomme.
Alles erscheint mir wie ein Traum, eine Illusion. Unwirklichkeit.

Und dann sehe ich plötzlich die Bilder.
Es sind Erinnerungen, Momente, die auf einmal vor meinem inneren Auge aufblitzen und die ein erneutes Schwindelgefühl in mir auslösen. Ich stütze mich haltsuchend ab, bemerke gar nicht, woran.
Es sind nicht meine.

Ich kneife die Augen zusammen, versuche, mich zu konzentrieren. Es sind glückliche Erinnerungen - Kinder, die herumtollen, ein blondhaariger Junge, der sich stolz sein Zeugnis abholt... Und plötzlich begreife ich.
Es sind seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, seine Bilder.
Und ich kann sie sehen.

Das muss ein Traum sein, schießt mir durch den Kopf. Trotzdem kann ich nicht anders, als weiter hinzusehen. Plötzlich sehe ich Erinnerungen, in denen der Junge älter ist - einen Streit mit einem Arzt, einen Krankenhausaufenthalt, einen Mann, der ihn anschreit, weiterzuarbeiten... Ich kann die Bilder nicht festhalten, kann nicht genauer hinsehen. Sie fliegen vor meinem inneren Auge vorbei, ohne dass ich sie stoppen kann. Als ich keine mehr sehe, habe ich aber nicht das Gefühl, dass das Ganze schon vorbei ist. Im Gegenteil, eine Gänsehaut erfasst meinen Körper, meine Haut beginnt, zu kribbeln, meine Augen brennen stärker. Es fühlt sich an, als ob ich in etwas hineingesaugt werden würde und ich reiße meine Augen unwillkürlich noch ein Stückchen weiter auf. Ich merke gar nicht, dass ich schon fast bei dem Kellner angekommen bin, und als ich an ihm vorbeigehe, erfüllt mich ein unheimlich starkes Gefühl, das mir den Atem raubt. Ich renne beinahe zu der Toilette, schließe mich ein, atme durch. Dann erst erlaube ich mir selbst, das Gefühl zuzuordnen.
Es ist eine unglaublich starke Erkenntnis, eine Tatsache, die mich einnimmt, sodass ich an nichts anderes mehr denken kann.
Dieser Kellner hat eine gute Seele.

Ich hebe eine Augenbraue. Er hat eine gute Seele? Was soll das jetzt bedeuten? Ich durchforste mein Inneres nach weiteren Informationen, doch finde nichts außer dieser Feststellung. Frustriert beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich bin eindeutig verrückt, denke ich und seufze.
Ich will mich gerade wieder umdrehen, um aus der Tür zu gehen - meinen Toilettengang habe ich völlig verdrängt -, als mir ein Gedanke kommt. Meine Augen brennen immer noch.
Ich weiß nicht, was es ist, das mich in diesem Moment beschleicht - ein Verdacht kann es nicht sein, weil ich noch nie etwas davon gehört habe -, doch es bewirkt, dass ich mich langsam aufrichte. Ich verschränke meine Arme vor der Brust, vielleicht als Schutz vor dem, was gleich kommen wird.
Dann sehe ich in den Spiegel und mir stockt der Atem.
Meine Augen sind schwarz.

„Endstation, bitte alle aussteigen."
Müde schlage ich ein Auge auf, nur um das andere darauf aufzureißen. Das Zugabteil um mich herum ist leer, als ich mich verwirrt aufrichte und umsehe.
Alles nur ein Traum, stelle ich erleichtert fest, ehe ich hektisch meine Jeansjacke und meine Handtasche von dem Sitz neben mir klaube und aus dem Zug renne. Ich habe es doch tatsächlich geschafft, nach dem Test einzuschlafen, stelle ich überrascht fest, doch dabei habe ich das Gefühl, mich selbst von etwas anderem abzulenken. Etwas beängstigendem, das ich gerade geträumt habe.

Wie zum Teufel kommt mein Gehirn nur auf solchen Stuss?, frage ich mich und bemühe mich, nicht weiter darüber nachzudenken.

Ich habe fünf verpasste Anrufe, als ich auf den Bildschirm in meiner Jackentasche schaue, und als ich das feststelle, wird mir flau im Magen. Super gemacht, Ava, rüge ich mich in Gedanken, das mit dem „Ich werde meine Eltern nie wieder enttäuschen" funktioniert ja ausgezeichnet.
„Klappe", flüstere ich mir selbst zu und ernte dafür ein paar verwunderte Blicke von anderen Reisenden. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken, doch ich beiße die Zähne zusammen und tue so normal wie ich kann.
Wann war ich schon normal?, frage ich mich zur gleichen Zeit. Immer bin ich die gewesen, die in der Schule alleine saß und der totale Streber war, und was hat mir das ganze Lernen gebracht? Ich werde in meiner Familie akzeptiert. Das ist alles. Ich werde nicht für meine herausragenden Noten gelobt, meine Intelligenz wird als selbstverständlich angesehen.
Und das, obwohl ich meine guten Noten nicht beziehungsweise nur teilweise durch meine Schlauheit erreicht habe.
Vielmehr durch den Ehrgeiz, nächte- und tagelang nichts anderes zu tun, als zu lernen.

Ich seufze leise und schiebe den Gedanken in die hinterste Ecke meines Kopfes, soweit von mir weg, wie es nur geht. Meine Eltern haben mich bestimmt vermisst, rede ich mir ein. Die Vorstellung fühlt sich gut an und ich spüre, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet.
Doch es verrutscht, als ich meine Selfie Kamera öffne, um meine vom Schlaf verwuschelten Haare zu richten, und sehe, wie meine Augen schwarz aufleuchten.

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now