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Das Mädchen schreit sich die Seele aus dem Leib

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Das Mädchen schreit sich die Seele aus dem Leib.
Innerlich.
Denn einer der Männer hat von ihrer Mutter abgelassen, um sich im Raum umzusehen. Er überprüft den Boden nach versteckten Falltüren, inspiziert den Kühlschrank, um verdächtige Lebensmittel zu entdecken. Wie den Babybrei, den das Mädchen ein paar Minuten vorher noch schnell entsorgen mussten, obwohl sie dachte, dass das nicht nötig sei. Jetzt denkt sie anders darüber.
Der Mann ist anders als die anderen, stellt sie beunruhigt fest. Dieser eine nimmt seinen Job ernst.
Und das kann nichts gutes bedeuten.
Sie runzelt die Stirn und schaut wieder aus dem Fenster.
Zumindest ist es das, was man auf den ersten Blick denken könnte. In Wirklichkeit beobachtet sie den Mann in der Spiegelung des dicken Glases, wie er umhergeht und schließlich in einem anderen Zimmer verschwindet. Das Mädchen atmet leise auf. Er ist mit der Durchsuchung dieses Raums fertig, denkt sie erleichtert.

Doch dann kommt der Mann wieder zurück, diesmal mit einer Windel in der Hand, die er mit spitzen Fingern hält. Gerade noch rechtzeitig kann das Mädchen einen entsetzten Aufschrei zurückhalten. Sie beißt die Zähne zusammen, hält die Luft an. Das kann nicht sein!, würde sie am liebsten rufen, ich habe sie doch entsorgt!
Die Mutter des Mädchens wirft dem Mädchen einen Seitenblick zu. Er ist kurz, aber von so vielen Emotionen geprägt. Angst, Panik. Aber noch viel schlimmer: etwas Vorwurfsvollem.
Sie hat vergessen, die Windel zu entsorgen. Es ist ihre Schuld, dass der Mann ihre Mutter mit fragendem Blick und hochgezogenen Augenbrauen ansieht. „Es tut mir leid, aber wir sehen uns gezwungen, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen", sagt er. „Es besteht der Verdacht, dass Sie entgegen des Grundgesetzes ein zweites Kind bekommen haben."

Das Mädchen wirft seiner Mutter einen ängstlichen Blick zu. Nein, „ängstlich" ist nicht das passende Wort. „Panisch" beschreibt es eher.
Wenn sie das Haus auf den Kopf stellen, werden sie ihn finden, schießt ihr durch den Kopf. Das darf unter keinen Umständen passieren.

Das Mädchen stellt seine Füße auf das Parkett und richtet sich auf. „Warten Sie", ruft sie. Dutzende Gedanken schwirren durch den Kopf, senden Adrenalinstöße durch ihren kleinen Körper. Jetzt darf sie nichts falsches tun.
„Es ist meine", flüstert sie und deutet auf die Windel. Auch wenn ihr die Röte ins Gesicht schießt, schaut sie dem Mann fest in die Augen.

Dieser lacht schallend auf. „Deine? Das glaubst du wohl selbst nicht, du siehst aus wie mindestens acht!"
Das Mädchen beißt sich auf die Unterlippe. „Sechs", verbessert sie den Mann.
Die Augen ihrer Mutter blitzen, doch sie ignoriert sie und hält dem Blick des Mannes stand.
„Tatsächlich", murmelt dieser, als er auf dem Bildschirm in seiner Hand nachschaut. „Nun denn." Er lächelt ein dünnes, unechtes Lächeln und beugt sich ein Stückchen zu dem Mädchen herunter. „Nun, Glückwunsch...", er schaut erneut auf den Bildschirm, „Ava, und netter Versuch."

Er wendet sich von dem Mädchen ab, das ihn mit großen Augen ansieht, und fährt fort, das Haus zu untersuchen. „Erledigen Sie endlich Ihre Arbeit", schnauzt er die Männer an, die bisher nur untätig herumstanden, und rauscht aus dem Raum.
Und es dauert nicht lange, bis er wieder zurückkommt und ihn entdeckt.

Ich schreie.
Ich schreie, bis jemand eine Hand auf meinen Mund legt und mich zwingt, mich hinzusetzen. Ich schreie gegen die Hand an, lauter als zuvor, bis meine Umgebung plötzlich klarer wird, ich erkenne, dass sie meiner Mutter gehört, und damit aufhöre. Meine Augen werden groß und ich presse die Lippen zusammen, während ich mich hektisch umsehe.
Ich sitze auf der Couch in unserem Wohnzimmer, meine Mutter und mein Vater haben ungewohnt dicht neben mir platzgenommen.
Ich schlucke und richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Mutter. „Was-", will ich anfangen, doch sie schneidet mir das Wort ab.
„Du hast plötzlich angefangen, zu schreien, Ava."

Ich schaue sie entgeistert an, reibe meine Schläfen, bemerke, dass meine Hände zittern und mein Puls ungewöhnlich hoch ist. Was zum Teufel ist passiert?

„Geht es dir gut?", fragt meine Mutter.

Mit großen Augen sehe ich sie an. „Ich weiß nicht, ich... also... eigentlich schon..." Ich runzele die Stirn über mein Stottern und seufze leise, ehe ich beschließe, einfach mal die Wahrheit zu sagen. „Nein, um ehrlich zu sein geht es mir nicht gut." Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich das vor meinen Eltern zugebe.

Meine Mutter ist genauso überrascht über diese Worte wie ich selbst. „Stimmt etwas nicht?", erkundigt sie sich, ehe sie wie ich die Stirn runzelt. „Liegt es etwa an dem Test, Avelaine?"

Ich zucke unwillkürlich zusammen, als sie mich bei meinem vollen Namen nennt. Das hat sie seit Elias' Tod nicht mehr getan.
Vielleicht zucke aber auch zusammen, weil sie den Test erwähnt und mich damit in die schmerzhafte Wirklichkeit katapultiert.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke. „Ich habe nicht bestanden." Überrascht darüber, wie leicht mir dieser Satz über die Lippen kam, sehe ich hoch.
Und wünsche mir prompt, es nicht getan zu haben. Die Gesichtszüge meiner Mutter sind entgleist, in ihren Augen steht pures Entsetzen. Selbst als ich zu meinem Vater schaue, ist seine Miene, die eigentlich nie Emotionen preisgibt, überrascht.
Ich kann nicht anders, als wieder auf meine Hände zu schauen - so sehr schäme ich mich. Wenigstens habe ich nicht gelogen. Das würde alles noch schwerer machen, denke ich, doch gleichzeitig wird mir klar, dass es wenig gibt, dass schlimmer ist, als in diesem Moment neben meinen Eltern zu sitzen.

Ich weiß nicht, wie lange Stille zwischen uns herrscht. Habe ich sie sonst - zum Beispiel beim Abendessen gestern - für bedrückend gehalten, so ist sie jetzt der Superlativ davon. Man erwartet beinahe, kleine Spannungsfelder in der Luft aufflimmern zu sehen, so geladen ist die Atmosphäre im Raum.

Ein paar Minuten vergehen, in denen ich nervös an meinen Fingernägeln herumkratze, ehe ich bemerke, dass meine Haut darunter langsam zu bluten beginnt, und ich es sein lasse.
Ich räuspere mich leise, dann erhebe ich mich langsam und bemühe mich, meinen Eltern nicht in die Augen zu sehen.
„Ich glaube, ich bin heute dran mit Abendbrot Machen", stoße ich betont gelassen aus - zumindest hatte ich das vor, das Ergebnis hört sich unglaubwürdig an.
„Ich.. ich glaube, ich fange mal damit an."

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now