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Die anderen fragen nicht nach, wo ich in den letzten Stunden gewesen bin, als ich mich beim Abendessen an ihren Tisch setze. Wieder einmal stelle ich fest, wie unterschiedlich sie mit Situationen umgehen. Robert weicht meinem Blick aus, starrt auf sein Essen. Laurent mustert mich, als wäre ich ein unlösbares Rätsel. Was ich vermutlich auch bin. Sam versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass die Hälfte des Speisesaals uns mit neugierigen Augen verfolgt. Ich sehe nur einmal kurz von unserem Tisch auf, um mich zu vergewissern, dass Fynn nicht da ist. Das ist er zum Glück nicht, aber stattdessen begegne ich Phoenix' Blick. Was sucht er hier? Nervös schaue ich wieder auf meinen Teller, nehme einen Löffel Suppe. Was er wohl von mir denkt? Der Moment im Bad scheint zwischen uns zu hängen wie ein unsichtbarer Nebel. Ob er eine federleichte Verbindung zwischen uns schafft, von der ich niemals gedacht hätte, dass sie möglich sein könnte, oder es nur noch rätselhafter wird, ist mir unklar. Doch was ich sicher weiß, ist, dass ich meinem eigentlichen Feind eine verwundbare Seite gezeigt habe.

Freitag und Samstag vergehen ohne irgendwelche Vorkommnisse. In der Nacht spüre ich jedoch immer noch die Blicke der anderen auf mir. Mehrmals wälze ich mich herum, bis ich endlich, Fynns Blut vor Augen, Schlaf finde.

„Ava, mach' endlich diesen Scheiß Wecker aus." Ich spüre Sams vertrauten Fußtritt an meiner Seite. Beinahe froh darüber, dass zumindest morgens alles wieder beim Alten ist, strecke ich mich und stoppe das nervige Klingeln.

Gähnend will ich mich wieder auf die Seite drehen, als es mich nervös durchfährt. Die Punkzahlen des ersten Teils hängen heute aus. Die Lebensgeister kehren in meinen Körper zurück. Mit einem Ruck schwinge ich mich aus dem Bett, reiße den anderen auf meinem Weg ins Bad die Decken weg. Ich kann nicht verleugnen, dass ich sehr gespannt auf meine Ergebnisse bin - gerade nach dem Sieg gegen Fynn gestern. Bin ich jetzt vielleicht noch weiter oben? Lächelnd heiße ich die Vorfreude willkommen, die sich in mir ausbreitet. Es ist lange her, seit ich etwas anderes als Angst vor meinem ersten Kampf verspürt habe.

Doch als wir nach einem kurzen Frühstück wieder im Trainingssaal stehen, fühlen sich die neugierigen Blicke der anderen und das Blut, das immer noch auf dem Boden klebt, wie ein Schlag in die Magengrube an. Eigentlich habe ich es verdient, im Ranking nach unten abgerutscht zu sein. Ich kann nicht einschätzen, ob es meiner sichtbaren Aggression beim Kampf gestern geschuldet möglich ist, dass ich Punkte verloren habe. Stirnrunzelnd mustere ich Ericson, der wieder auf seinen Tisch steigt. Oder ist kalte Mordlust gerade das, was sie haben wollen?

„Ich heiße euch herzlich willkommen zur Ergebnisverkündung des ersten Teils." Der Text, den Ericson von einem Zettel abliest, passt nicht zu seiner gelangweilten Miene. „Heute müssen uns die ersten Teilnehmer verlassen."

Ich muss ein hysterisches Prusten unterdrücken. Seine Worte lassen eher auf eine Castingshow als auf ein Blutvergießen schließen. Unruhig folge ich Roberts Blick zu den vielen Soldaten, die an der Tür stehen. Es ist also nicht nur mir aufgefallen, dass mindestens doppelt so viele Wachen wie sonst anwesend sind - was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass heute die ersten sterben. Wenn mein Name unter den Vierzehn ist, würde ich auch nicht kampflos aufgeben. Oder wird das von uns erwartet? Ich unterdrücke ein Stöhnen. Die umherwirbelnden Gedanken in meinem Kopf tun meiner Aufregung nicht gerade einen Abbruch.

Man merkt überdeutlich, dass die Stimmung noch angespannter ist als sonst. Die ängstlichen Augen eines Jungen, der neben mir steht, schweifen immer mal wieder zur Tür. Hat er vor, zu fliehen? Hoffentlich nicht. Er hat gegen die zahlreichen Wachen nicht den Hauch einer Chance, außerdem habe ich gehört, dass sie beim Abliefern der Leichen keinen Hehl aus Rebellion machen. Jetzt zu fliehen, könnte den Ruf seiner ganzen Familie ruinieren. Nichts ist beim Tratsch und Geläster in diesem Land interessanter als unwürdiges Verhalten.

Er scheint meinen stummen Rat nicht zu hören, denn bevor Ericson auch nur die Liste zeigen kann, rennt der Junge los. Ein verzweifelter Schrei dringt aus seiner Brust, als er gegen die Mauer aus Soldaten prescht und sich tatsächlich einer der Waffe losreißen kann. Bevor er sie jedoch auch nur auf jemanden richten oder den Abzug drücken kann, geht er zu Boden. Wortlos nehmen zwei der Wachen den angeschossenen Achtzehnjährigen in ihre Mitte und schleifen ihn aus dem Saal. Seine schmerzverzerrten Schreie hallen immer noch in meinen Ohren nach, als sie schon längst um die Ecke verschwunden sind.

Ericson fährt unbeeindruckt fort. „Da jetzt auch ein Idiot gezeigt hat, was passiert, wenn ihr dem Tod entgehen wollt, können wir ja weitermachen." Beinahe gierig lässt er seinen Blick über die verängstigte Menge schweifen. „Überraschung - es gibt nämlich keinen Ausweg."

Er lacht schallend, als hätte er einen witzigen Scherz gemacht. In der Stille hat das Lachen etwas von einer Gruselbahn auf einem alten Jahrmarkt.

Da überraschenderweise niemand in sein Gelächter einstimmt, wendet er sich fast ein wenig beleidigt dem riesigen Bildschirm zu. „Niemand für 'nen Spaß zu haben hier", murmelt er, bevor er sich ein letztes Mal zu uns umdreht. „Wie gesagt, die ersten Zehn dürfen in Phoenix' tolles Training." Bitte nicht, denke ich nur. Einer der oberen Plätze hat schon seinen Reiz, aber nach dem komisch-vertrauten Moment im Bad will ich ihm so bald nicht mehr unter die Augen treten müssen.

Ericson klickt irgendeinen Button an und verlässt den Raum. Niemand beachtet ihn, alle drängen sich näher zum Bildschirm. Atemlos warte ich ab, bis wir etwas erkennen können. Ein überraschtes Keuchen verlässt meinen Mund.

10.: Ava

Platz zehn. Zehn, verdammt. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, weil ich so knapp in Phoenix' Extratraining gerutscht bin.

Hände klopfen mir auf die Schulter, und mein Grinsen wird echt, als ich sehe, dass auch Sam, Robert und Laurent den ersten Teil überstanden haben. Ein Tumult bricht um uns herum aus, als die vierzehn Achtzehnjährigen, die ausgeschieden sind, in Tränen ausbrechen, um sich schlagen, ebenfalls zu fliehen versuchen. Schweigend verlassen wir den Raum, nachdem unsere Identität von den Wachen geprüft wurde. Es ist vielleicht egoistisch von mir, aber ich kann mir die Szene im Trainingssaal einfach nicht ansehen.

Monoton machen wir einen Schritt vor den anderen, versuchen, das Tumult hinter uns zu ignorieren, während mir in eiskalter Ruhe etwas bewusst wird.

Sie wollen kalte Mordlust von uns.

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now